Was passiert, wenn die eigenen Grenzen unsichtbar sind

Foto: Rike Schulz
Mareike Fell

Eigenverantwortung – klingelt da was bei Ihnen? Dann lesen Sie unbedingt weiter! Die Fürstenberg-Kolumne mit Mareike Fell

Eigenverantwortung – klingelt da was bei Ihnen? Dann lesen Sie unbedingt weiter! Die Fürstenberg-Kolumne mit Mareike Fell

Na? Wie geht es Ihnen? Wo erwische ich Sie gerade? Ich möchte Ihnen heute einen Fall aus meiner Beratung* vorstellen, wie er mir am Fürstenberg Institut immer wieder begegnet:

Vor mir sitzt ein Mann. Herr S.: Groß, stark, gepflegt, sehr entgegenkommend und freundlich. Aber auch nervös. Unsicher und im Blick etwas von: Ich will hier weg. Als ich frage, was ihn herführt, sprudelt es aus ihm heraus:

Es ist ihm alles zu viel! Er war immer ein Leistungsträger, hat seinen Job geliebt! Aber nun wurde kürzlich ein neues System eingeführt, was nicht rund läuft und er muss dafür gerade stehen. Sein Chef sieht das nicht und läd ihm immer mehr auf. Dazu kommt seine Situation zu Hause, mit einer kranken Ehefrau: Sie fordert und fordert – aber dafür kann sie ja nichts…

Mittlerweile zeigt Herr S. auch deutliche körperliche Symptome: Ihn plagen Schlafstörungen, innere Unruhe, Herzstolpern (aber der Kardiologe kann keine Ursache finden). Sogar seinem Hobby, dem eigenen Garten, geht er nicht mehr nach, was ihn noch mehr stresst…

Dieses Muster findet sich bei vielen, deren Grenzen unsichtbar sind: Hoch empathische, hoch engagierte Menschen, die sich für andere aufgeben – meist aber damit einhergehend, dass sie genau das dann aber auch unbewusst von ihrem Gegenüber erwarten, wie seine nächste Antwort zeigt:

Was er sich denn wünschen würde, frage ich ihn? Das fällt Herrn S. ziemlich einfach: Eigentlich will er einfach nur Ruhe. Und dass die anderen mal sehen, was er da wuppt! Dass sie mal mehr Rücksicht nehmen und sich selbst zurück! Was hier passiert, ist im Grunde eine Verdrehung der Verantwortlichkeiten.

Ich frage Herrn S., ob er denn auch von einem Blinden erwarten würde, dass er “hinschaut”? Nein, das ginge ja nicht, der kann ja nichts sehen! Wie würde er denn dem Blinden klarmachen, was er da sehen soll? Herr S. würde ihm beschreiben, was er sieht und dem Blinden dann erklären, was er von ihm will.

Fuerstenberg Institut Farbe-Kopie in Was passiert, wenn die eigenen Grenzen unsichtbar sind

Und plötzlich macht es “Klick”! Denn genau darum geht es: Wieso sollten die anderen ihr Verhalten ändern, wenn es doch geht? Sie wissen ja nicht mal, dass es für ihn ein Problem ist? Denn er zeigt/sagt es ja nicht… Dennoch erwartet er von ihnen, dass sie irgendwie “hellsehen”. Und wenn sie dann auch noch Rücksicht auf ihn nehmen, geht es ihm besser. Die Verantwortung dafür, dass es ihm gut geht, liegt damit in der Hand des Gegenübers, egal ob nun Firma oder Frau.

In einer Welt, in der Herr S. selbst die Verantwortung für seine Grenzen, also Eigenverantwortung übernimmt, setzt er sich für genau diese ein: Er bespricht mit seinem Vorgesetzten, was er nicht mehr schafft und gemeinsam können Lösungen erarbeitet werden. Zu Hause könnte Herr S. seiner Frau mal sagen, wie es ihm wirklich geht und dass auch er mal Zeit für sich braucht. Herr S. sitzt mir lachend gegenüber: Ja, das macht für ihn absolut Sinn!

Dennoch will ich wissen, ob es denn für ihn o.k. wäre, wenn die anderen dann nicht Hurra schreien? Denn das Aufzeigen seiner eigenen Grenze ist für das Gegenüber manchmal (meist aber auch nicht) ein Problem! Herr S. stutzt: Ja, da wüsste er jetzt nicht so genau, wie er damit umgehen sollte… Aber eigentlich müsste das o.k. sein. Hier ist hinzugucken noch mal wichtig! Denn wenn wir uns nicht trauen, uns dem anderen mit unseren Grenzen zuzutrauen, traue ich mich auch nicht, mich sichtbar zu machen.

Das ist aber ein ganz anderes Thema, für das sich Herr S. und ich für eine weitere Stunde verabreden.

Hier ein paar einfache Merksätze für Sie, um sich sichtbar zu machen:

  • Der andere kann nicht hellsehen – helfen Sie ihm!
  • Denken Sie an Ihren “Seelen-Vorgarten”: Hegen und pflegen Sie ihn – seinen Sie stolz darauf, zeigen Sie ihn!
  • Der andere muss nicht Hurra schreien – trauen Sie sich ihm dennoch einfach zu! Das Gegenüber kommt damit besser klar als man denkt…

* Der Fall wurde mit dem Einverständnis der Betroffenen anonymisiert.

Autorin Mareike Fell ist systemischer Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie und ist als Beraterin und Trainerin in der externen Mitarbeiterberatung für das Fürstenberg Institut tätig. Internet: www.fuerstenberg-institut.de 

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