Wiederanlage: „Die Branche verschenkt 4,6 Milliarden Euro jährlich“

Die Pflicht zur jährlichen Unterrichtung des Versicherungsnehmers dient dem Zweck, diesem während der sehr langen Laufzeit des Versicherungsvertrages Klarheit über die Entwicklung seiner Ansprüche zu verschaffen.

Die seit Jahren niedrige Wiederanlagequote zeigt, dass dieses Thema bei Vermittlern ganz offensichtlich nicht im Fokus steht. Cash. sprach mit Frank Gehrig und Maximilian Effing von Simon-Kucher & Partners über verschenktes Anlagevolumen, fehlende Strategien und eine vernachlässigte Zielgruppe.

Die seit Jahren niedrige Wiederanlagequote zeigt, dass dieses Thema bei Vermittlern ganz offensichtlich nicht im Fokus steht. Cash. sprach mit Frank Gehrig und Maximilian Effing von Simon-Kucher & Partners über verschenktes Anlagevolumen, fehlende Strategien und eine vernachlässigte Zielgruppe.

Es gibt rund 83 Millionen Lebens- und Rentenversicherungen hierzulande. Laut ihrer Studie liegt die Wiederanlagequote bei gerade einmal 13,5 Prozent. Wie kommt es zu einer derart niedrigen Quote.

Gehrig: Grundsätzlich variiert die Quote natürlich zwischen den Häusern, weil sie unterschiedliche Definitionen anlegen, wie Volumen in Euro versus Policen, weil ihr Kanalmix variiert oder weil enge Kooperationen mit der Bank andere Möglichkeiten der Wiederanlage erlauben. Trotzdem zeigt unsere Studie auch bei gleicher Ausgangslage Unterschiede, die auf grundlegende Prozesse zurückzuführen sind – sowohl in Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung als auch in Beratung und Verkauf gibt es deutlichen Nachholbedarf.

Während der langen Laufzeit findet meist kaum oder keine persönliche Interaktion mit dem Kunden statt. Die Daten sind also komplett veraltet und der Agent ist oft schon im Ruhestand. Da es keine persönliche Verbindung gibt, ist die Hürde der Kontaktaufnahme sehr hoch. Diese erfolgt dann meist zu spät und weitgehend unvorbereitet.

Chance auf Wiederanlage erhöhen

Um die Chance einer Wiedereinlage zu erhöhen, sollten Kunden schon ein Jahr vor Vertragsende kontaktiert werden. In Beratung und Verkauf beschränken sich viele Versicherer eigenen Angaben zufolge dann nur darauf, die reibungslose Abwicklung des Vertrags und die Auszahlung der entsprechenden Versicherungssumme sicherzustellen. Das liegt auch daran, dass finanzielle Anreize an weitgehend gesättigten Vermittlern abprallen.

Wie hoch ist das Volumen, dass die Versicherer verschenken?

Effing: Geht man von einer Quote von 25 Prozent als realistisch erreichbares Ziel aus, verschenkt die Branche annähernd 4,6 Milliarden Euro Anlagevolumen jährlich.

Warum existiert bis heute bei vielen Versicherern kein leistungsfähiger Prozess für ein Wiederanlagemanagement?

Gehrig: Am Ende des Tages ist das Thema Wiederanlage eben auch eine Frage von Wille und Opportunität. Unsere Studie zeigt, dass 76 Prozent der Versicherer keine klaren Vertriebsziele formulieren.

Die Mehrheit der Versicherer ist nicht gewillt

Wirklich gewillt, hier besser zu werden, ist die große Mehrheit scheinbar nicht. In unseren Projekten sehen wir aber ganz klar: Diejenigen, die es systematisch angehen, verbessern sich je nach Ausgangswert um 80 bis 200 Prozent.

80 Prozent der Versicherer sagten, dass die Wiederanlage in Ihrer Vertriebsstrategie keine Priorität hat. Wie ist das möglich?

Effing: Wahr ist, dass die aktuelle Zinslage für durchschlagende Produkte wenig Spielraum lässt. Zudem sind biometrische Leistungen – das Alleinstellungsmerkmal des Versicherers – in diesem Alter sehr teuer. Knapp 70 Prozent der befragten Versicherer sagten, dass die Rendite-Erwartungen wohl nicht den Vorstellungen der Wiederanlagekunden entsprechen. Doch viel mehr gibt das Angebot aktuell nicht her.

Wie gut sind die Versicherungsunternehmen auf die Beratung der Zielgruppe eingestellt?

Gehrig: Die Beratung ist aufgrund des mangelndes persönlichen Kontakts während der gesamten Laufzeit und des schwierigen Produktangebots herausfordernd. Verkäufer treffen auf eine heterogene Gruppe, zu der sie keinerlei Bindung haben: Die Kunden unterscheiden sich sehr stark in ihrer Überzeugung für oder gegen die Wiederanlage.

Ein häufiger Fehler ist, dass Vermittler ihren Kunden nahelegen, die gesamte Versicherungssumme wiederanzulegen. Das ist unrealistisch, denn natürlich wollen diese etwas von ihrem Geld sehen, das sie 25 oder 30 Jahre lang einbezahlt haben.

Versicherer müssen Kunden, für die Wiederanlageangebote attraktiv sind, identifizieren und analysieren. Was ist ihr Kundenwert, welche Bedürfnisse haben sie? Auf diesen Informationen aufbauend lassen sich dann passgenaue Produkte entwickeln, die zum Beispiel eher auf Sicherheit oder Rendite abzielen.

Dr. David Stachon, Vorstand für Digitale und unabhängige Vertriebe bei Generali Deutschland sagte in einem Interview mit unserem Magazin, dass die Versicherer das Thema zwar längst auf der Agenda hätten, doch müssten überzeugendere Lösungen für die Kunden entwickelt werden. Wie bewerten Sie diese Aussage?

Effing: Beide Aspekte sind sicher richtig. Obwohl Versicherer das Thema längst auf der Agenda haben, fehlt noch der Wille, wirklich Ressourcen darauf zu verwenden. Die Niedrigzinsphase stellt für überzeugende Lösungen natürlich ein Problem dar.

Rendite-Erwartungen entsprechen nicht den Vorstellungen

Zwar sehen sich 80 Prozent der Befragten produktseitig gut oder sehr gut aufgestellt, knapp 70 Prozent stimmen aber der Aussage zu, dass die Rendite-Erwartungen wohl nicht den Vorstellungen der Wiederanlagekunden entsprechen.

Auch wenn das klassische Produktangebot den Versicherern aktuell kaum Luft lässt, können sie die Chance nutzen, speziell auf die Zielgruppe zugeschnittene Serviceangebote anzubieten. Und hier eine Art Ökosystem bilden, in dem der Versicherer die Speerspitze bildet.

Plant der Kunde beispielsweise eine Reise, können Vergünstigungen über Partner gemäß der Kundenpräferenzen angeboten und auf verwandte Lebensbereiche ausgeweitet werden. Das Gleiche gilt für den altersgerechten Hausumbau und andere Themen, die den Kunden beim Eintritt in eine neue Lebensquase beschäftigen.

Eine weitere Erkenntnis Ihrer Studie ist, dass sich der Vertrieb scheut, Kunden anzusprechen. Weil er keinen Bedarf sieht, den Kunden über die Auszahlung zu beraten. Weil er nicht in die Situation geraten möchte, dem Kunden die Modalitäten zu erklären. Zudem fehlt für diese Klientel oft noch die passende Vertriebs- und Beratungssoftware. Das klingt nach einer vertrieblichen Kapitulationserklärung vor der Zielgruppe. Wo hapert es im Vertrieb?

Gehrig: Es ist ein Mix aus vielem: Ein Grund ist die schlechte Datenqualität, die aus fehlendem Kundenkontakt über die lange Vertragslaufzeit hinweg resultiert. Dann fehlen wie gesagt auch monetäre Anreize zur Wiederanlage – sowohl auf Vermittler-, als auch auf Kundenseite.

Und ja, es fehlt den Vermittlern häufig auch an den entsprechenden Hilfsmitteln. Meistens müssen sie sich auf die eigene Intuition und ein paar Broschüren verlassen. Geführte, elektronisch-unterstützte Prozesse, die sie zusammen mit dem Kunden durchgehen können und die für Transparenz sorgen, gibt es in der Regel nicht.

Ebenso wenig Wenn-Dann-Guidelines, die dem Verkäufer helfen können, mit kritischen Situationen im Gespräch umzugehen. Die grundlegende Stellschraube, an der gedreht werden muss, ist die Verteilung der Verantwortlichkeiten.

„Wiederanlage darf nicht mehr in den Händen des Vertriebs liegen“

Die Wiederanlage darf nicht mehr in den Händen des Vertriebs liegen, sondern muss zentral geregelt werden. Die Leads können dann, sofern gewünscht, Vermittlern zugespielt werden, die sich um Beratung und Verkauf kümmern.

Das Interview führte Jörg Droste (dr), Cash.

Foto: Shutterstock / Simon-Kucher/Homepage: Frank Gehring

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