„Die Zeit ist zu dynamisch für ein einfach weiter so“

Der digitale Vertrieb funktioniert im Sachbereich. Im Lebenbereich und den beratungsintensiven Produkten ist es schwerer darzustellen sein. Braucht es die menschliche Komponente?

Schoeller: Es gibt zwei Aspekte, die hier eine Rolle spielen: Für welchen Zeithorizont treffe ich eine Entscheidung. Eine Kfz-Versicherung kann ich jährlich kündigen, eine Krankenversicherung ist eine Entscheidung fürs Leben. Die zweite Frage ist, wie komplex ist der Sachverhalt. Gerade wenn sich diese beiden Faktoren verbinden, wie in der Risikoabsicherung für Unternehmen oder in der Lebens- oder Krankenversicherung wird die persönliche Beratung elementar wichtig.

Um hier gute Entscheidungen zu treffen, braucht es persönliche Interaktion, um die individuellen Bedürfnisse und Anforderungen zu verstehen und in Lösungen zu übersetzen. Das heißt aber nicht, dass Digitalisierung dabei keine Rolle spielt.

Beratungsplattformen können im Gespräch unterstützen direkte Entscheidungen zu treffen. Deswegen ist die Digitalisierung auch ein systemimmanenter Teil des Vertriebs.

Dr. Stephan Knoll, Vorstandsvorsitzender der DFV Deutsche Familienversicherung sagte bei der Halbjahresbilanzpresskonferenz, dass der stationäre Vertrieb, wenn er sich nicht grundlegend ändern würde, in seiner jetzigen Form faktisch tot sei.

Schoeller: Hier äußert sich jemand mit einem Geschäftsmodell, das ausschließlich auf Digitalisierung setzt, über die Zukunft des personalen Vertriebs. Daher ist es wenig verwunderlich, dass er zu diesem Schluss kommt. Ich glaube, dass der Markt für Beratung und persönliche Interaktion wesentlich größer ist, als die reinen Digitalmärkte.

Auch auf lange Sicht. Natürlich hat Herr Knoll recht, wenn er sagt, dass auch Vertriebe vor großen Veränderungen stehen. Sie werden ihr Portfolio stärker auf das beratungsintensive Geschäft konzentrieren. Und natürlich hat er auch recht, dass die demographische Entwicklung die Vertriebsorganisationen vor Herausforderungen stellt.

Die Zahl der Vermittler wird sinken und wir müssen einiges tun, um qualifizierten Nachwuchs zu entwickeln und die Attraktivität des Berufsbilds des Versicherungsvermittlers zu stärken. Da ist die gesamte Versicherungsindustrie gefordert. Aber dass dieses Berufsbild verschwindet, da ist wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens der Direktversicherer.

Der Garantiezins liegt bei 0,9 Prozent. Die Deutsche Aktuarvereinigung hatte dem Bundesfinanzministerium eine Absenkung auf 0,5 Prozent empfohlen. Macht es Ihrer Meinung nach Sinn, vor dem Hintergrund der langfristigen Zinsentwicklungen noch auf Garantien zu beharren?

Schoeller: Was ist die Essenz von Lebensversicherungen? Sie hat zwei wichtige Funktionen. Die erste ist die Absicherung für ein langes Leben, das so genannte Langlebigkeitsrisiko. Wir geben Menschen die Möglichkeit, auch wenn sie alt werden, finanziell gut ausgestattet den Ruhestand zu genießen. Das bleibt eine der elementaren Aufgaben der Lebensversicherung.

Die zweite ist die Verlässlichkeit, bezogen auf die Frage, was man denn im Alter bekommt. Die totale Renditeorientierung, weg von Sicherheit und ausschließlich in Richtung Rendite, macht das Konstrukt der Lebensversicherung obsolet.

„Verlässliche Zusagen bleiben wichtig“

Da bin ich mir nicht ganz sicher, ob wir damit gut aufgehoben wären. Der grundlegende Anspruch, den Kunden eine verlässliche Zusage zu machen, damit sie für den Ruhestand kalkulieren können, bleibt wichtig. Deswegen würde ich auch immer fürhybride Modelle plädieren, bei denen wir den Kunden auch eine solche Sicherheit bieten.

Viele Lebensversicherer bieten in der Altersvorsorge moderne Alternativen wie Indexpolicen oder moderne Klassik. Immer verbunden mit Garantien von 90, 80, 70 oder 60 Prozent. Ist das in Ihren Augen der neue Weg?

Schoeller: Ja. Wir bieten auch attraktive Modelle unterhalb der 100-Prozent-Garantien. Das nehmen die Kunden an. Was die Menschen nicht annehmen, ist ein vollständiger Verzicht auf Beitragsgarantien.

Aber es macht auf jeden Fall Sinn, die Garantien zu reduzieren und den Versicherern mehr Freiheiten für die Kapitalanlage zu geben. Gleichzeitig wächst die Anforderung an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Produkte.

Das Innovations- und Wettbewerbsdifferenzierungspotenzial über neue Produkte im Markt ist erheblich. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass der Sinn einer Lebensversicherung darin liegt, Altersvorsorge zu bieten.

Am 4. Juli 2020 wurde die Gothaer 200. Jahre alt. Sie haben den Geburtstag genutzt, um die Gründung einer Stiftung bekannt zu geben. Was steckt dahinter?

Schoeller: Die ursprüngliche Idee war, am Tag des 200-jährigen Jubiläums einen Zukunftskongress zu veranstalten. Mit Wissenschaftlern, Zukunftsforschern und anderen Experten, die die großen Herausforderungen unserer Zeit aufzeigen, aber auch den Blick in die fernere Zukunft wagen.

Zu den großen Herausforderungen unserer Zeit gehört dabei vor allem der nachhaltige Umgang mit unserem Planeten. Es ist das Thema mit dem gravierendsten Einfluss auf unsere Gesellschaft und unsere Zukunft. Wir verfolgen bei der Gothaer drei Säulen der Nachhaltigkeit.

Erstens, welchen Beitrag leisten wir über unser Kerngeschäft zur Nachhaltigkeit, sowohl in unseren Versicherungslösungen als auch in der Kapitalanlage. Zweitens, was ist unser eigener ökologischer Footprint als Unternehmen und drittens, was ist unser Beitrag zur Nachhaltigkeit in der Gesellschaft. Unsere Stiftung widmet sich diesem letzten Thema.

Mit der Stiftungsgründung betonen Sie den Stellenwert der Nachhaltigkeit für Ihren Konzern. Andererseits habe ich den Eindruck, dass andere Versicherer beim Thema Nachhaltigkeit schneller waren oder sind.

Schoeller: Der Eindruck trügt. Die grundlegende Idee von Versicherung ist ja, Unternehmen durch versicherungstechnische Absicherung zu ermöglichen, Risiken einzugehen, die sie sonst nicht eingehen könnten. Wir sind der erste Versicherer in Deutschland gewesen, der Deckungskonzepte für alternative Energien entwickelt hat.

„Wir waren Pionier bei Versichern von Windenergie“

Wir waren 1995 einer der Pioniere beim Versichern von Windenergie. Mittlerweile sind wir – mit weitem Abstand – Marktführer in Deutschland und in Europa. Jede dritte Windkraftanlage in Deutschland ist durch die Gothaer versichert. Aber wir versichern auch alle anderen Formen der alternativen Energieerzeugung. Damit ermöglichen wir den Fortschritt in dieser Gesellschaft hin zu alternativen Formen der Energieerzeugung.

Lesen Sie hier, wie es weitergeht.

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