Exklusiv-Interview Alte Leipziger: „Die Einstellung zu Risiko und Garantie überdenken“

Foto: Cash.
Dr. Jürgen Bierbaum, Alte Leipziger, stellvertretender Vorstandsvorsitzender ALH-Gruppe

In der Altersvorsorge tendiert der Markt deutlich in Richtung fondsgebundener Tarife. Über das Ende der Garantie-Modelle, das „Umparken“ bei der Altersvorsorge und das Dilemma der Lebensversicherer bei der nachhaltigen Ausrichtung der Kapitalanlagen sprach Cash. mit Dr. Jürgen Bierbaum, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Alte Leipziger Lebensversicherung.

In der Altersvorsorge tendiert der Markt deutlich in Richtung fondsgebundener Tarife. Auch die Neue Klassik dürfte vor dem Hintergrund der Garantiezinssenkung kein Vorsorgemodell für die Zukunft sein. Zudem drängen Nachhaltigkeitsaspekte immer stärker in den Vordergrund. Über das Ende der Garantie-Modelle, das „Umparken“ bei der Altersvorsorge und das Dilemma der Lebensversicherer bei nachhaltiger Ausrichtung der Kapitalanlagen sprach Cash. mit Dr. Jürgen Bierbaum, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Alte Leipziger Lebensversicherung.

Zum 1. Januar 2022 sinkt der Höchstrechnungszins auf 0,25 Prozent. Welches Signal geht ihrer Meinung nach von der Absenkung aus? 

Bierbaum: Das eine Signal ist, dass Produkte, die sehr garantiebetont sind, unattraktiver werden. Es verstärkt den Trend, sich von hohen Garantien zu lösen und mehr in Substanzwerte und damit ins Risiko zu gehen. Ein falsches Signal wäre es aber, daraus den Schluss zu ziehen, dass sich die Lebensversicherung nicht mehr lohnt. Das ist ein Missverständnis. Nochmals: Das Signal muss sein, die Einstellung zu Risiko und Garantie zu überdenken.

Findet das „Umparken im Kopf“ mittlerweile auch statt? Was sehen Sie?

Bierbaum: Wir haben in den letzten Jahren eine stetige Zunahme des Anteils und auch des absoluten Volumens des fondsgebundenen Geschäfts gesehen. Zwischen 2017 und 2020 ist das Fondsvolumen bei fondsgebundenen Versicherungen von 1,2 auf zwei Milliarden Euro gewachsen. Und wir sehen auch im Neugeschäft, dass immer mehr fondsgebundene Produkte nachgefragt werden. In der privaten Altersvorsorge wählen fast alle Kunden Tarife mit einer Garantie unterhalb des Bruttobeitragserhalts.

Kaum jemand wählt noch einen reinen Klassiktarif. Das sind eher Ausnahmefälle und interessanterweise Leute, die über mehr Kapital verfügen und schon in Substanzwerte investiert sind. Im Grunde lässt sich sagen: Im Privatgeschäft liegt das Garantieniveau deutlich unter 100 Prozent. Generell geht der Trend hin zu fondsgebundenen Versicherungen. Das gilt auch in der bAV. Da gibt es zwar immer noch Kunden, die setzen sehr stark auf Garantien. Aber auch dort denken Vertriebspartner und Kunden um.

Inwiefern?

Bierbaum: Wir haben dort mittlerweile nicht nur fondsgebundene Produkte mit Garantien, sondern auch fondsgebundene Policen mit Garantien unterhalb des Bruttobeitragserhalts. Nicht wenige Kunden sehen darin die bessere Alternative. Es gibt zwar aktuell noch die Beitragszusage mit Mindestleistung mit 100 Prozent Garantieniveau. Aber die Rechnungszinssenkung kommt zum Jahreswechsel. Insofern befinden wir uns in einem Jahr der Umstellung. Den großen Umbruch werden wir dann im nächsten Jahr auch in der bAV sehen.

Welche Kunden wählen den klassischen Tarif?

Bierbaum: Wir haben uns 2017 zu einer grundlegenden Tarifreform entschieden und moderne klassische Produkte mit endfälligen Garantien eingeführt. Im Rahmen der Reform haben wird dann aus einem Produkt zwei Produktlinien gemacht. Eine, die nur im klassischen Sicherungsvermögen investiert ist und eine mit flexibler Aufteilung der Beiträge auf Klassik und Fonds. Inzwischen wählt im Segment der privaten Altersvorsorge der überwiegende Teil der Kunden das flexible Produkt. Das reine klassische Produkt spielt eher im Einmalbeitragsbereich eine Rolle. Gerade wenn der Kunde bereits eine Immobilie oder ein Aktienportfolio hat und etwas freies Kapital besitzt. Dann ist das eine gute Möglichkeit, zu einem immer noch relativ hohen Zins Geld über die Zeit zu bringen. Diejenigen, die sich gut mit Finanzen auskennen, finden diese Option attraktiv.

Sie bieten eine moderne flexible Rente, eine moderne klassische Rente, das Norwegen-Konzept und eine flexible Fondsrente: Welche Sicherheitsansätze spiegeln sich in den Produkten wider?

Bierbaum: Wir haben zwei übergeordnete Produktlinien. Das eine ist die bereits vorgestellte moderne, flexible Rente. Die andere ist die AL-Fonds-Produktlinie. Die moderne Rente gibt es als rein klassischen Tarif, ohne Fonds. Und dann gibt es, wie gesagt, das flexible Produkt. Der Kunde sucht sich dann aus, wie er seinen Beitrag aufteilen möchte. Also beispielsweise 50 Prozent in den Klassik-Topf und 50 Prozent in Fonds. Und diese Fonds kann er auswählen. Bei dem Produkt liegt auf dem klassischen Teil eine Kapitalgarantie. Beim Fondsteil gibt es zwar einen garantierten Rentenfaktor, aber keine Kapitalgarantie.

Bei der AL-Fonds-Produktlinie – außer beim reinen fondsgebundenen Produkt, für dass es nur einen garantierten Rentenfaktor gibt– können Sie ein Garantieniveau in Prozent der Bruttobeiträge wählen, zum Beispiel 80 Prozent. In dem Fall können Sie zwar in Fonds investieren. Das Volumen wird allerdings durch den Kapitalmarktverlauf und den Wertsicherungsmechanismus determiniert. Bei Produkten, die eine Garantie in Prozent der Beiträge haben, haben sie zwar eine Flexibilität hinsichtlich der Fondsauswahl, aber die tatsächliche Allokation bestimmt der Algorithmus. Bei der flexiblen Rente haben sie die volle Flexibilität. Mit der Option, bei fallenden Kursen in den Klassik-Topf umzuschichten.

Das Norwegen-Konzept basiert auf der modernen flexiblen Rente. Vor dem Hintergrund der Komplexität haben wir uns hier entschieden, dem Kunden und dem Vermittler ein Fondsportfolio anzubieten mit einer Allokation zwischen Sicherungsvermögen und Fonds, die dem norwegischen Staatsfonds nachempfunden ist. Der Kunde muss hier nicht aus einer Vielzahl von Fonds wählen. Er kann hier jederzeit switchen, muss es aber nicht.

Wie reagieren Vermittler?

Bierbaum: Jeder Makler verfolgt hier seine eigene Philosophie. Es gibt die Fondsspezialisten, die ein breites Angebot erwarten, von ETFs bis hin zu nachhaltigen Fonds, die ihre Kunden jährlich beraten und das Fondsangebot jährlich zusammenstellen. Und dann gibt es die Altersvorsorge-Experten, denen spezialisierte Kenntnisse bei der Kapitalanlage fehlen und die Leitplanken haben möchten.

Jeder Mensch ist anders und jeder Makler möchte für seinen Kunden das Passende herausfiltern. Daher sagen wir auch nicht: Garantien sind gut oder schlecht. Ich sage aber, zu hohe Garantien sind schlecht. Bei Garantien kommt es auch auf die Bedürfnisse des Kunden an. Man muss sich das Universum also genau anschauen. Der eine Pfad geht mehr in Richtung Garantien und Absicherung. Der andere eher hin zur Flexibilität.

Viele werden fragen, was am Ende herauskommt. Bei welcher Variante können Kunden die höchste Rendite erwarten?

Bierbaum: Die naive Antwort, die man geben würde, lautet: Investieren Sie zu 100 Prozent in Aktien, international, diversifiziert. Das bringt wahrscheinlich die höchste Rendite. Allerdings bringt diese Aussage einem gar nichts. Denn diese Allokation ist im Verlauf sehr volatil und insofern unsicher. Deswegen gibt es ja die Differenzierung nach Chance-Risiko-Klassen. Ich glaube, es ist die Herausforderung und die Aufgabe des Vermittlers, herauszufinden, wie viel Risiko der Kunde verkraften kann und will. Und natürlich spielen der Zeithorizont, das Alter und die Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Kunden eine wichtige Rolle. Sicherlich bringt eine hohe Aktienquote über eine lange Laufzeit von mehreren Jahrzehnten viel.

Aber es muss auch immer berücksichtigt werden, was der Kunde im Verlauf verkraften kann. Insofern ist das Norwegen-Konzept nicht ganz unintelligent. Ein Mischfonds mit Substanzwerten und Infrastrukturinvestments. Zudem wird das Sicherungsvermögen laufend angepasst. Und das Chance-Risiko-Verhältnis ist hier ausgewogen. Aber letztlich lässt sich die Entscheidung nur treffen, wenn ich den Kunden und seine Lage kenne.

Erleben Sie bei den jüngeren Kunden eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber der investmentbasierten Altersvorsorge?

Bierbaum: Wir haben überwiegend jüngere Neukunden um die 30 im Privatgeschäft. Und hier sehen wir schon, dass sich der Kundenkreis langsam, aber sicher von den Garantien verabschiedet, hin zu mehr Flexibilität. Das Gros wählt Fondsinvestments mit geringeren Garantiekomponenten. In diesem Umdenkprozess spielt der Vermittler eine wichtige Rolle.

Welche Rolle spielt die Nachhaltigkeit für die private Altersvorsorge?

Bierbaum: Wir haben das Thema seit mehr als drei Jahren auf der Agenda und haben uns sowohl unser Sicherungsvermögen als auch die Fondspalette unter diesem Aspekt angeschaut. Nun ist das Sicherungsvermögen wie ein großer Tanker, der eher langsamer auf Veränderungen reagiert. Bei den Fonds kann man sehr viel schneller reagieren. So haben wir in den letzten Jahren die Palette an nachhaltigen Fonds ausgebaut und thematisch auch diversifiziert. Unser Problem ist, dass wir aktuell noch gar nicht die konkrete Ausgestaltung von Artikel 8 und 9 der EU-Offenlegungsverordnung für nachhaltige Geldanlagen kennen.

Das heißt konkret?

Bierbaum: Wir wissenaktuell noch nicht genau, was das Sicherungsvermögen erfüllen muss, um nach Artikel 8 und 9 eingestuft zu werden, weil die Durchführungsbestimmungen noch im Entwicklungsprozess sind. Ich war überrascht, dass Wettbewerber plötzlich sagen, dass ihr Sicherungsvermögen gemäß Artikel 8 nachhaltig ist.

Wir haben für hunderte Millionen Euro Windkraftparks in den Kapitalanlagen des allgemeinen Sicherungsvermögens. Nach meinem Verständnis sind dies Investitionen in den Klimaschutz und somit nachhaltig. Das ist sachlich auch korrekt. Allerdings kann ich diese Investments nicht marketingtechnisch bewerben, weil die Daten, die es braucht, um diese Nachhaltigkeitsinvestment auch offiziell als solche zu deklarieren, nicht vollständig vorliegen.

Sie befinden sich aktuell in einer Grauzone?

Bierbaum: In der Tat. Es gibt im Moment die Offenlegungs-Verordnung und die Taxonomie-Verordnung. Aber wir können derzeit noch nicht sagen, welche Produkte beziehungsweise Investments nach Artikel 8 oder 9 nachhaltig sind. Weil wir nicht wissen, wann wir einen Deckungsstock als nachhaltig bezeichnen dürfen. Insofern sind wir hier zurückhaltender als Wettbewerber.

Wir fänden es peinlich, wenn wir Mitte kommenden Jahres unsere Kunden anschreiben und ihnen erklären müssten, dass als nachhaltig ausgewiesene Kapitalanlagen und Investments es leider nicht sind, weil die Aufsicht hier eine andere Ansicht hat. Das wäre für mich der Super-GAU. Da verliere ich meine Glaubwürdigkeit. Natürlich beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema. Bei fondsgebundenen Produkten lässt sich die Frage, ob ein Fonds nach Artikel 8 oder 9 nachhaltig ist, relativ klar beantworten. Aber wir können diese Frage nicht für das komplette Produkt beantworten.

Ein Problem sind die teilweise sehr langen Laufzeiten der Lebensversicherungen. Ein Beispiel: Sie investieren in eine Fondspolice, wo sie in der Ansparphase nur in Fonds investieren und sie wählen einen Fonds, der ist nachhaltig nach Artikel 8. Handelt es sich hierbei um ein gesamthaft nachhaltiges Versicherungsprodukt?

Ich würden sagen ja.

Bierbaum: Eben nicht. Nach derzeitiger Interpretation ist das nicht der Fall. Denn es handelt sich um eine Rentenversicherung, und die investiert in der Rentenphase in das klassische Sicherungsvermögen. Und aktuell wissen wir nicht, ob das klassische Sicherungsvermögen die Bedingungen des Artikel 8 erfüllt. Insofern tun wir uns schwer, das gesamte Versicherungsprodukt als nachhaltig zu bezeichnen. Derzeit tun wir es nicht, weil wir den Vorwurf des Greenwashing vermeiden wollen. Das ist das Dilemma, in dem wir stecken. (dr)

Das Interview führte Jörg Droste, Cash. (dr)

Weitere Artikel
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments