BAG-Urteil: Vertrauen und Kontrolle bei der Arbeitszeiterfassung

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Auch wenn eine Zeiterfassung in elektronischer Form nicht zwingend vorgeschrieben ist, wird sie in den meisten Fällen das Mittel der Wahl sein.

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung und ihre Bedeutung für die Praxis. Gastbeitrag von Rechtsanwalt Alexander Greth

Nach einem viel beachteten Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 sind Arbeitgeber verpflichtet sind, ein System einzuführen und zu verwenden, mit dem Beginn und Ende und damit auch die Dauer der Arbeitszeiten, einschließlich der Überstunden, erfasst und aufgezeichnet werden. Bei der Ausgestaltung lässt das Bundesarbeitsgericht dem Arbeitgeber Spielräume. Insbesondere muss die Arbeitszeiterfassung nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen und kann auf die Mitarbeiter delegiert werden.

Das Bundesarbeitsgericht leitet die Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung aus Paragraf 3 Absatz 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz ab, durch den eine europäische Richtlinie zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer umgesetzt wurde. Für den Europäischen Gerichtshof beinhaltet der Gesundheitsschutz der Mitarbeiter auch die Verpflichtung des Arbeitgebers, ein objektives, verlässliches und zugängliches System für die Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten einzurichten. Der Europäische Gerichtshof konkretisiert damit die in Paragraf 3 Arbeitsschutzgesetz genannten Pflichten des Arbeitgebers zum Gesundheitsschutz. Das Bundesarbeitsgericht konnte deshalb die Vorschrift in der Weise auslegen, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, einschließlich der Überstunden, und damit auch die Dauer der Arbeitszeit selbst zu erfassen. Nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts steht dem nicht entgegen, dass der Gesetzgeber dem Arbeitgeber im Arbeitszeitgesetz als der spezielleren Regelung eine solche weitgehende Verpflichtung gerade nicht auferlegt.

Über die reine Erhebung der Arbeitszeit hinaus müssen die Daten zur Arbeitszeit auch aufgezeichnet werden, um zu gewährleisten, dass die Lage der täglichen Arbeitszeit und die Einhaltung der täglichen und der wöchentlichen Höchstarbeitszeiten innerhalb des Bezugszeitraums überprüfbar sind und von den zuständigen Behörden kontrolliert werden können.

Im Schrifttum war darüber spekuliert worden, ob es nicht ausreichen könnte, dass der Arbeitgeber ein entsprechendes System bereitstellt, dem Arbeitnehmern allerdings die Entscheidung über die Nutzung überlässt. Dieser Erwartung erteilt das Bundesarbeitsgericht eine klare Absage und betont, dass von der Arbeitszeiterfassung auch tatsächlich Gebrauch gemacht werden muss. Eine Nutzung der Arbeitnehmer auf freiwilliger Basis ist nicht ausreichend.

Darüber hinaus muss der Arbeitgeber anhand der vorgenommenen Aufzeichnungen kontrollieren, ob das Arbeitszeitgesetz durch die Mitarbeiter eingehalten wird. Diese Verpflichtung benennt das Bundesarbeitsgericht zwar nicht ausdrücklich. Sie folgt allerdings aus der Ableitung der Aufzeichnungspflicht aus dem Arbeitsschutzgesetz, das den Arbeitgeber zur Kontrolle der Maßnahmen zum Gesundheitsschutz verpflichtet.

Nicht zwingend elektronisch

Von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung dürfen die Mitarbeitergruppen ausgenommen werden, für die das Arbeitszeitgesetz nicht gilt. Neben Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern sind dies insbesondere leitende Angestellte im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes. Dies ist ein kleiner Kreis von Mitarbeitern, in der Regel die Führungsebene unmittelbar unterhalb der Geschäftsführung.

Bei der Ausgestaltung des objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung hat der Arbeitgeber einen Spielraum, solange vom Gesetzgeber keine konkretisierende Regelung getroffen wird. Bei der Auswahl und Ausgestaltung des Systems sind vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheit des Unternehmens, insbesondere seine Größe, zu berücksichtigen. Die Arbeitszeiterfassung muss nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Vielmehr können beispielsweise je nach Tätigkeit und Unternehmen Aufzeichnungen in Papierform genügen.

Wie bisher bleibt es möglich, dass die Aufzeichnung der Arbeitszeit an die Mitarbeiter delegiert wird. Alles andere wäre auch schwer vorstellbar, da eine elektronische Zeiterfassung an Bildschirmarbeitsplätzen typischerweise durch den Mitarbeiter aktiviert wird und manuelle Korrekturen, wenn beispielsweise vergessen wurde, die Zeiterfassung morgens zu aktivieren oder abends zu beenden, aus rein praktischen Gründen möglich sein müssen.

Das Bundesarbeitsgericht betont, dass die Auswahl und nähere Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems der Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer dienen muss. Diese Zielsetzung darf nicht rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden. Auch wenn eine Zeiterfassung in elektronischer Form nicht zwingend vorgeschrieben ist, wird sie in den meisten Fällen gleichwohl das Mittel der Wahl sein. Aufzeichnungen in Papierform kommen nur dann in Betracht, wenn eine elektronische Zeiterfassung auf Grund der von den Arbeitnehmern ausgeübten Tätigkeit nicht praktikabel ist. Bei Bildschirmarbeitsplätzen ist dies schwer vorstellbar. Dagegen wird bei Mitarbeitern mit Reisetätigkeit und Kundenterminen, wie dies beispielsweise für den Vertriebsbereich üblich ist, voraussichtlich auch weiterhin eine manuelle Erfassung möglich sein.

Eine verlässliche Zeiterfassung hilft Mitarbeitern bei der Dokumentation geleisteter Überstunden. Arbeitgeber werden sich daher auf vermehrte Forderungen von Mitarbeitern nach Überstundenvergütung einstellen müssen. Ob Überstunden zu vergüten sind, richtet sich allerdings weiterhin ausschließlich nach den getroffenen vertraglichen Vereinbarungen. Die Entscheidung ändert insbesondere nichts daran, dass Besserverdienende, denen eine Vergütung oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (derzeit 87.600 Euro jährlich) gewährt wird, grundsätzlich nicht erwarten können, dass Überstunden zusätzlich vergütet werden.

Nachtschichten dürften seltener werden

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat angekündigt, im ersten Quartal 2023 einen praxistauglichen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz vorzulegen. Da die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung allerdings bereits jetzt besteht, können Arbeitgeber streng genommen nicht auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers warten. Andererseits sind Verstöße gegen Paragraf 3 Absatz 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz keine Ordnungswidrigkeit und dementsprechend nicht bußgeldbewehrt. Arbeitgebern, die zunächst die gesetzliche Regelung abwarten wollen, drohen daher keine Sanktionen.

Besteht ein Betriebsrat, sind dessen Mitbestimmungsrechte zu beachten und eine Zeiterfassung kann erst nach Einigung mit dem Betriebsrat oder einem Spruch der Einigungsstelle eingeführt werden. Eine sofortige Einführung einer Arbeitszeiterfassung kommt daher in Unternehmen mit Betriebsrat ohnehin nicht in Betracht.

Auch zukünftig wird ein selbstbestimmtes Arbeiten mit freier Zeiteinteilung im Homeoffice möglich bleiben. Nachtschichten im Homeoffice und Telefonkonferenzen spät abends mit amerikanischen Kollegen dürften allerdings seltener werden, da zwischen zwei Arbeitstagen eine ununterbrochene Ruhezeit von elf Stunden liegen muss und Verstößen durch die Arbeitszeiterfassung zukünftig dokumentiert werden. Anders als bisher kann der Arbeitgeber nicht mehr von der Erfassung der Arbeitszeit absehen. Vertrauensarbeitszeit in der Reinform, dass arbeitgeberseits auf jede Kontrolle verzichtet wird, wird es damit nicht mehr geben. Vielmehr steht der Arbeitgeber in der Verantwortung, die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes anhand der aufgezeichneten Daten zu überprüfen.

Alexander Greth ist Fachanwalt für Arbeitsrecht im Düsseldorfer Büro der Wirtschaftskanzlei Simmons & Simmons.

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