EXKLUSIV

Guido Bader: Was die gesetzliche Rente vom Aktuariat lernen kann

Dr. Guido Bader, Vorstandsvorsitzender der Stuttgarter
Foto: Die Stuttgarter
Dr. Guido Bader: "Statt Reformen rechtzeitig anzupacken, wurde immer wieder hinausgezögert, vertröstet, schöngerechnet."

Seit Jahrzehnten ist klar, dass die Rente vor großen Herausforderungen steht – doch die Politik setzt auf Hoffnung, statt zu handeln. Was die Rentenpolitik vom aktuarischen Denken lernen kann. Ein Kommentar von Dr. Guido Bader

Bereits in den 1980er-Jahren – das ist also 40 Jahre her – war die Richtung klar: Die Alterspyramide begann sich sichtbar zu verschieben. Die Geburtenrate in Deutschland hatte mit den geburtenstarken Jahrgängen der 60er-Jahre ihren Höhepunkt überschritten, die nachfolgenden Generationen blieben zahlenmäßig deutlich kleiner. Die demografische Entwicklung war also nicht nur absehbar – sie war statistisch bereits schlicht Realität.

Die Zahlen lagen auf dem Tisch. Was fehlte, war der politische Wille, daraus Konsequenzen zu ziehen. Rückblickend ist das besonders bitter. Denn die Grundlagen für eine vorausschauende Vorsorgepolitik lagen längst vor. Nur genutzt wurden sie nicht. Während Aktuarinnen und Aktuare seit jeher mit langfristigen Projektionen, unterschiedlichen Szenarien und Vorsichtsprinzipien arbeiten, dominierte in der Politik das Prinzip Hoffnung – und die Angst vor unpopulären Maßnahmen. Dabei wäre viele der heutigen Herausforderungen vermeidbar gewesen, hätte man sich rechtzeitig von der kurzfristigen Logik des politischen Tagesgeschäfts gelöst.


Das könnte Sie auch interessieren:

Politisches Handeln orientiert sich häufig an Wahlzyklen, an kurzfristigen Mehrheiten und an der Kunst, unangenehme Wahrheiten zu vermeiden. Das zeigt sich besonders deutlich am Umgang mit der gesetzlichen Rente. Statt Reformen rechtzeitig anzupacken, wurde immer wieder hinausgezögert, vertröstet, schöngerechnet. Die Politik wollte die Wähler nicht verärgern, war mutlos und zögerlich.

Das Aktuariat hingegen tickt anders. Es denkt langfristig, arbeitet mit Szenarioanalysen und kalkuliert auch mit ungünstigen Entwicklungen. Es ist gewohnt, mit Unsicherheit professionell umzugehen – nicht, indem man sie ignoriert, sondern indem man sie systematisch durchdenkt. Genau das fehlt in der Rentenpolitik seit Jahrzehnten.

Lektion 1: Länger leben heißt früher handeln

Die steigende Lebenserwartung ist eine gesellschaftliche Erfolgsgeschichte – und gleichzeitig eine enorme Herausforderung für umlagefinanzierte Systeme. Während die Zahl der Beitragszahler sinkt, steigt die Zahl der Rentenbeziehenden – und das über lange Zeiträume hinweg.

Aktuarinnen und Aktuare begegnen dieser Entwicklung mit konservativ berechneten Sterbetafeln, Sicherheitsmargen und der bewussten Einplanung von Langlebigkeitstrends. Dieser Vorsichtsansatz hat sich bewährt. Die Kritik, man rechne zu vorsichtig, wurde durch die Realität längst widerlegt. Die politischen Reaktionen hingegen blieben aus – und wenn sie kamen, waren sie meist verspätet und schmerzhaft. Vorsicht ist kein Pessimismus – sondern professionelle Vorbereitung.

Lektion 2: Zinseszinseffekt und Kapitaldeckung

Während die gesetzliche Rente weiterhin überwiegend umlagefinanziert ist, setzen Aktuare seit jeher auf Kapitaldeckung. Denn nur wer über lange Zeiträume Vermögen aufbaut, kann von den Erträgen des Zinseszinseffekts profitieren. Diese Denkweise wurde in der politischen Diskussion zu lange vernachlässigt.

Statt systematisch Kapitalreserven aufzubauen und die Eigenvorsorge zu stärken, wurde das Umlagesystem stabilisiert – oft auf Kosten künftiger Generationen. Dabei hätte eine frühzeitige, systematische Förderung von kapitalgedeckter Vorsorge viel Druck aus dem System genommen. Heute ist das Nachholen deutlich teurer – und politisch schwieriger durchzusetzen. Wertaufbau braucht Zeit – und den Mut, früh zu beginnen. Der Zinseszins ist ein starker Gehilfe.

Lektion 3: Zukunft simulieren statt beschönigen

In der Rentenpolitik wird zu oft mit optimistischen Grundannahmen gearbeitet. Wirtschaftswachstum, Geburtenraten, Erwerbsbeteiligung – viele Prognosen der Vergangenheit haben sich als zu optimistisch herausgestellt. Aktuarisches Denken geht hier anders vor: Es simuliert nicht nur den Idealfall, sondern gerade auch die schwierigen Szenarien. Was passiert bei schwachem Wachstum, niedrigen Zinsen oder einer noch höheren Lebenserwartung?

Ableitungen aus solchen „Was-wäre-wenn“-Analysen machen Systeme robuster. In der Lebensversicherung gehören sie längst zum Standard. Sie haben dazu beigetragen, dass Lebensversicherer selbst in Phasen massiver Finanzkrisen stabil geblieben sind. Ein vergleichbares Risikobewusstsein fehlt in der politischen Planung der Rente – mit absehbaren Folgen. Wer nur den Best Case plant, scheitert meist.

Lektion 4: Langfristige Stabilität braucht stabile Entscheidungen

Viele Rentenentscheidungen der vergangenen Jahre hatten Notfallcharakter. Zuschläge, Übergangsregelungen, Stabilisierungsversprechen – sie wirken oft wie kurzfristige Eingriffe in ein angeschlagenes System. Das Problem: Sie schaffen keine dauerhafte Verlässlichkeit.

Das Aktuariat setzt auf konsistente Modelle und nachhaltige Pfade. Entscheidungen, die heute getroffen werden, sind so konzipiert, dass sie auch in 30 Jahren noch tragfähig sind – unter verschiedensten Bedingungen. Genau diese Haltung fehlt in der Rentenpolitik. Es braucht einen Mentalitätswandel: weg vom Reparaturmodus, hin zur vorausschauenden Systempflege.

Was jetzt zu tun ist – und wer es tun muss

Der demografische Wandel war vorhersehbar. Das macht das politische Versäumnis der letzten Jahrzehnte so gravierend. Aber Jammern hilft nicht. Viel wichtiger ist jetzt die Frage: Wer übernimmt Verantwortung, wenn die Politik es nicht tut?

Gerade Vermittlerinnen und Vermittler sind gefragt, die private Vorsorge aktiver in den Mittelpunkt zu rücken. Wer das Vertrauen der Menschen hat, ihre finanzielle Zukunft zu gestalten, muss die Lücken benennen – und passende Lösungen anbieten. Dabei hilft es, sich an den Prinzipien des Aktuariats zu orientieren: Ehrlich rechnen, langfristig denken, solide planen. Denn das Wissen war nie das Problem. Es fehlte – und fehlt – am Willen zur Umsetzung.

Dr. Guido Bader ist Vorstandsvorsitzender der Stuttgarter Lebensversicherung und Cash. Kolumnist

Weitere Artikel
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments