BdV-Solvenzanalyse 2020: Mehr als ein Viertel der Versicherer angezählt

Axel Kleinlein, Vorstandssprecher des Bundes der Versicherten

Ein Viertel der Lebensversicherer hat ernste Solvenzprobleme. Der Bund der Versicherten und Zielke Research Consult zeichnen in ihrer aktuellen Solvenzanalyse ein düsteres Bild. Der GDV und die Deutsche Aktuarvereinigung halten dagegen.

Die Lage der deutschen Lebensversicherer ist dramatisch. Fast die Hälfte von ihnen erreicht die erforderliche Mindestsolvenz nur mithilfe von Übergangsmaßnahmen oder dem Griff in die Tasche der Kundinnen und Kunden. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Solvenzanalyse, die der Bund der Versicherten e. V. (BdV) gemeinsam mit der Zielke Research Consult GmbH veröffentlicht hat.

Man sehe erwarte massive Verwerfungen, die die Branche strukturell verändern dürften, mahnen BdV und Zielke Research. „Fasst man die Unternehmen zusammen, die eine zu geringe reine Solvenz oder eine negative Gewinnerwartung haben, dann zeigt sich: 23 der 80 untersuchten Versicherer haben ernste Probleme (im Vorjahr 22). Ein Viertel der Versicherer ist angezählt“, heißt es von Seiten der Verbraucherschützer.

Reine Solvenz besorgniserregend

Erstmals wurde in der Analyse auch die reine Solvenz ohne Kundengelder ermittelt. „42 der 80 untersuchten Lebensversicherungsunternehmen reißen diese Solvenzhürde. Das heißt, 53 Prozent aller Unternehmen können nur unter Zuhilfenahme von Übergangsmaßnahmen, Volatilitätsanpassungen und/oder Kundengeldern die geforderte Solvenz nachweisen“, sagt BdV-Vorstand Axel Kleinlein. „Würden die Versicherten tatsächlich alle die ihnen gehörenden Überschüsse ausgezahlt bekommen, dann ist mehr als die Hälfte der Versicherer angezählt.“

Diversifizierung der Kapitalanlagen: Gute Noten mit Verbesserungspotenzial

Bei der Diversifizierung der Kapitalanlagen sind der Analyse zufolge ein Drittel der Lebensversicherungsunternehmen gut aufgestellt. Gut die Hälfte könne hier noch besser werden. Bei sechs Unternehmen sieht der BdV aufgrund einer niedrigen Diversifikation der Kapitalanlagen Handlungsbedarf.

Eine niedrige Diversifikation bergt die Gefahr, dass der Versicherer die Kapitalanlage zu einseitig fahre. Liefen die schlecht, können Verluste nur schwer ausgeglichen werden. Das mindere die Überschüsse und führe unter Umständen zu Schieflagen, betont Kleinlein.

Großes Lob gab es vom BdV für die Transparenz der Berichte. Nachdem der BdV diese in den vergangenen Jahren vielfach moniert hatte, haben sich die Unternehmen, so Kleinlein, hier weiterentwickelt.

Zweifel an Überlebensfähigkeit

„Einige Versicherer werden die nächsten Jahre nicht überleben, das ist dramatisch. Die Branche hat die Warnsignale der letzten Jahre offenbar geflissentlich ignoriert, den Preis dafür zahlen die Kundinnen und Kunden“, so Kleinlein.

Die Politik sei gefordert. Denn nach der Berechnungsmethode für Solvency II müssen Versicherer aktuell hohe Solvenzmittel vorhalten und damit hohe Risiken eingehen, um das Langlebigkeitsrisiko bei Rentenverträgen abzubilden. Die Lösung wäre der Verzicht auf den Verrentungszwang in der geförderten Altersvorsorge. „Wir fordern, dass der bestehende Verrentungszwang bei Riester- und Rürup-Renten endlich aufgehoben wird“, so Kleinlein.

Dr. Carsten Zielke, Geschäftsführender Gesellschafter der Zielke Research GmbH, kommentiert die Ergebnisse wie folgt: „Ein Ende der Verrentungspflicht mit einhergehender Änderung der steuerlichen Regeln auch für existierendes Geschäft könnte die Solvenzquoten um den Faktor 1,6 erhöhen und die Situation der deutschen Lebensversicherer erheblich entspannen.“

Damit bekämen die Versicherer Luft, um ihre Kapitalanlagen langfristig renditeträchtig und im Nachhaltigkeitsgedanken auszurichten anstatt nur den sinkenden Zinsen hinterherzulaufen. Damit könnten sie ohne weiteres mit Banken oder Assetmanagern in Konkurrenz um die Altersvorsorge treten, so Zielke.

„Trotzdem denke ich, dass nun auch das Thema Demutualisierung (die Umwandlung eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit in eine Kapitalgesellschaft, Anmerk. der Redaktion) angegangen werden muss, wie vor fünfzehn Jahren in Großbritannien. „Die Branche benötigt einfach mehr Eigenkapital und ich denke, der Markt wäre bereit, es ihr zu geben“, so Zielke.

GDV: Garantierte Leistungen gesichert

Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft reagierte in Form von Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des GDV, auf die Ergebnisse der Analyse: „Kein Kunde muss sich Sorgen um seine Lebensversicherung machen. Die garantierten Leistungen sind gesichert. Das geht auch aus Prognoserechnungen der BaFin hervor.“

Die Solvenzlage der deutschen Lebensversicherer sei nachweislich besser als vom Bund der Versicherten (BdV) dargestellt. Zudem übte Asmussen Kritik an der Methodik. Sie sei willkürlich, denn der BdV stütze seine Aussagen zur Lebensversicherung nicht auf die durch Solvency II gesetzlich vorgegebene, sondern auf eine von Zielke Research Consult selbst ermittelte ‚reine‘ Solvenzquote.

„Diese ist um Übergangsmaßnahmen bereinigt, obwohl diese integraler Bestandteil von Solvency II sind und europaweit genutzt werden. Zudem sind in dieser selbst definierten Solvenzquote fälschlicherweise auch die Effekte dauerhaft anwendbarer Anpassungen wie das ‚Volatility Adjustment‘ nicht enthalten“, so Asmussen.

DAV: „Weiter sehr stabil“

Auch der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Akturarvereinigung (DAV), Dr. Herbert Schneidemann, sieht die Lage weniger dramatisch. Zwar hätten die coronabedingten Verwerfungen an den Kapitalmärkten erwartbar ihre Spuren auch in den Solvenzkennzahlen der deutschen Lebensversicherer hinterlassen. Nichtsdestotrotz sei die Marktsituation aus aktuarieller Sicht weiterhin sehr stabil, sagte Schneidemann, der gleichzeitig auch Vorstandsvorsitzender der Bayerischen ist. Die Unternehmen hätten mit dem Aufbau der Zinszusatzreserve bereits seit 2011 Vorsorge für derartige Extremsituationen betrieben. Die Übergangsmaßnahmen von Solvency II haben, so Schneidemann, maßgeblich zur Stabilisierung der Branche beigetragen.

„Reine Solvenzquoten“: Fehlinterpretationen möglich

Zudem seien sie ein elementarer Bestandteil des seit 2016 gültigen Aufsichtsregimes Solvency II. Dadurch gebe es für jedes Unternehmen eine offizielle Solvency-II-Kennzahl. „Berechnungen sogenannter „reiner Solvenzquoten“ ohne Berücksichtigung der Übergangsmaßnahmen sind vor diesem Hintergrund aufsichtsrechtlich keine validen Kennzahlen und können sogar zu Fehlinterpretationen führen“, widerspricht der Vorstandsvorsitzende der Aktuarvereinigung.

Aus aktuarieller Sicht dürfe die Verwendung der Übergangsmaßnahmen nicht als Zeichen von Schwäche verstanden werden. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer sorgfältigen Risikoanalyse und Unternehmensstrategie. Und sei im Sinne eines kollektiven Verbraucherschutzes zu begrüßen.

Marktbereinigungen erwartet

Allerdings schließt Schneidemann Marktbereinigungen – notfalls auch auf Betreiben der BaFin – nicht aus. Richtig sei, dass die deutschen Lebensversicherer bis spätestens 2032 alle Anforderungen von Solvency II ohne die Anwendung der Übergangsmaßnahmen erfüllen müssten.

Und die BaFin werde genau beobachten, wie gut die Versicherungen dieser existenziellen Aufgabe nachkommen und zweifellos gegebenenfalls im Rahmen ihrer Kompetenz regulierend eingreifen. „Diese brancheninterne Hygiene ist aus aktuarieller Sicht absolut notwendig, um die langfristige Stabilität des gesamten Versicherungswesens auf dem heutigen hohen Niveau gerade im Interesse der Kundinnen und Kunden weiterhin sicherzustellen“, so Schneidemann. (dr)

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