KI-Trends sorgen für neuen Schwung bei Versicherern

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Künstliche Intelligenz kann wertvolle Dienste leisten, muss aber transparent sein.

Künstliche Intelligenz (KI) zählt zu den größten Technologie-Trends dieser Zeit. Das Thema ist allgegenwärtig und wird kontrovers diskutiert – in Wirtschaft und Wissenschaft, in Politik und Gesellschaft. Mittendrin steht die Versicherungsbranche.

Schon lange beschäftigen sich Versicherer mit KI. Tatsächlich eingesetzte Anwendungen sind jedoch Mangelware oder lassen sich eher der Kategorie Mogelpackung zuordnen. Denn längst nicht jedes regelbasierte Softwaresystem trägt zu Recht das Label KI. Doch es kommt Bewegung in die Branche. Gleich mehrere Trends könnten dem KI-Einsatz im Versicherungssektor einen Schub verleihen.

Die gängigste Ausprägung von KI bei Versicherern sind bislang Chatbots. Sie sorgen für mehr Effizienz in der Kundenkommunikation und entlasten den Kundenservice. Zudem sind sie aufgrund ihres geringen Umfangs gute Einsteigerprojekte im Bereich KI. Gerade in der Pandemie, als deutlich mehr Anfragen die Unterneh- men erreichten, spielten die KI-basierten Anwendungen ihre Stärken aus. Und Versicherer machten die Erfahrung: Gute KI-Projekte schaffen echte Mehrwerte. Dazu zählen schnellere Prozesse, optimierte Kommunikation und bessere Angebote für Kunden.

Trend zu Explainable AI als Grundstein für Vertrauen

Auf der anderen Seite gibt es gute Gründe, warum die Unternehmen bislang zurückhaltend agiert haben. Neben allgemeinen technologischen Herausforderungen wie der Datenhaltung stehen Versicherer vor zwei besonderen brancheneigenen Hürden. Das sind die Faktoren Vertrauen und Regulierung. Beide Aspekte sind der Grund, warum der Ansatz Explainable AI, also „Erklärbare KI“, für Versicherer eine zentrale Rolle spielt. Vertrauen ist das wichtigste Gut eines Versicherungsunternehmens. Es geht darum, den Kunden ein Gefühl von Schutz und Sicherheit zu bieten.

Dies verpflichtet zu einem verantwortlichen Umgang mit neuen Technologien, insbesondere der Nutzung von KI. Denn hier entscheidet ein Algorithmus, nicht der Mensch. Zum anderen braucht es die Akzeptanz der Kunden. Für sie muss transparent sein, wie Entscheidungen durch KI zustande kommen. Explainable AI kann das leisten. Sie zeigen an, wie stark welche Daten – zum Beispiel Geschlecht, Einkommen oder Wohnort – vom Algorithmus gewichtet wurden. Wertskalen oder Grafiken liefern ergänzend zum nackten Ergebnis eine Visualisierung, die die Gewichtung sichtbar macht. So entsteht Transparenz.

Wichtig ist das auch unter regulatorischen Gesichtspunkten. Die deutsche Versicherungslandschaft zählt zu den am stärksten regulierten Märkten der Welt. In Verfahren zum Schadenmanagement beispielsweise unterliegen die Unternehmen der Rechenschaftspflicht. Ohne Nachvollziehbarkeit der Entscheidung eines Algorithmus darf KI nicht zum Einsatz kommen.

Ebenso gibt es strikte Vorgaben, um mögliche Diskriminierung zu verhindern, etwa aufgrund des Geschlechts einer versicherten Person. Für Menschen ist das nachvollziehbar, für Maschinen nicht immer. Ein Beispiel: Die Datensätze eines Versicherers zeigen, dass zwischen Frauen und Männern eine unterschiedliche Sterbetafel gilt. Die KI würde diesen Zusammenhang erkennen und in der Tarifierung von Lebensversicherungen berücksichtigen. Trotzdem kennen wir seit Ende 2012 nur noch Unisex-Tarife in der Lebensversicherung.

Die KI könnte nun noch weitere Faktoren erkennen, die statistisch gesehen Auswirkungen haben und begründet werden können, aber allgemeinhin als diskriminierend gelten. Explainable AI kann helfen, zu diskriminierungsfreien KI-Anwendungen zu kommen.

KI bringt Versicherer den Kunden näher

Ein weiterer KI-Trend im Versicherungssektor ist die stärkere Personalisierung in der digitalen Kommunikation mit Kundinnen und Kunden. Die Unternehmen haben den Vorteil, dass sie über Unmengen an Daten verfügen. Moderne Technologien machen diese nun schnell, leicht und flächendeckend nutzbar.

Versicherer lernen die Versicherungsnehmer durch die Analyse von Nutzungs- und Nutzerdaten zunehmend besser kennen. Das ermöglicht den Versicherern zunächst einmal eine persönlichere Ansprache im direkten Kontakt sowie eine individuelle Anpassung von Beiträgen und Leistungen in bestimmten Sparten.

Es geht aber noch einen Schritt weiter: Versicherer können auf ihre Kundinnen und Kunden aktiv zugehen, etwa wenn die Daten auf neue Lebensumstände hinweisen, die eine Anpassung des Versicherungsschutzes empfehlenswert machen. Versicherte fühlen sich dadurch gut umsorgt und dauerhaft betreut, was ziemlich genau dem heutigen Kundenbedürfnis entspricht. Für die Unterneh- men bedeutet das die Chance, für viele Menschen zum treuen Lebensbegleiter zu werden. Und zwar dank KI im großen Maßstab und nicht auf kleinem Level.

Versicherer setzen auf Sicherheit – auch bei KI

Es ist keine neue Erkenntnis, dass Versicherer ungern ein Risikogeschäft eingehen. Was für Verträge mit Versicherten gilt, zeigte sich lange Zeit auch bei KI-Lösungen. In der Vergangenheit gab es stellenweise die Erwartungshaltung, dass eine KI-Lösung ohne jegliches Zutun wahre Wunder vollbringt. Doch das ist vorbei, vielmehr gibt es ein zunehmend kollektives Verständnis davon, was KI leisten kann und das vor der endgültigen Automatisierung ein schrittweises Vorgehen steht.

Dennoch ist es für die Unternehmen wichtig, dass sie beim Einsatz einer KI-Anwendung auf die Prozessstabilität und die Qualität der gelieferten Daten verlassen können. Das lassen sich die Versicherer von den Betreibern einer KI-Lösung Qualitätsversprechen vertraglich immer häufiger zusichern. Das senkt die Hemmschwelle für den Einstieg.

Neben dem Qualitätsversprechen ist es für Versicherer zunehmend von Relevanz, bereits vor Umsetzungsbeginn eines Digitalisierungsvorhabens ein klares Verständnis darüber zu erlangen, welche Mehrwerte dadurch entstehen. Ob mit Blick auf die Prozesse oder den Return-of-Investment: Versicherer sind offener für KI-Projekte, wenn sie schnell erste positive Ergebnisse sehen. Darum geht der Trend dahin, dass zunächst Teilbereiche mit Hilfe von KI digitalisiert werden, bevor ganze Sparten KI-Lösungen implementieren. Die Unternehmen bevorzugen deshalb häufig einen Proof-of-Concept (PoC), der anwendungsfallbezogen seinen Mehrwert nachweist. Sie sind dann die Wegbereiter für einen umfänglicheren Einsatz.

KI im Kampf gegen Betrüger

Ein ganz praktischer Treiber für mehr KI-Einsatz bei Versicherern ist eine große Herausforderung aus dem Kerngeschäft: Die Betrugserkennung. Allein in der Schaden- und Unfallversicherung erbringen die Versicherer pro Jahr mehr als 50 Milliarden Euro an Schadensleistungen. Schätzungen zufolge sind mindestens zehn Prozent davon auf betrügerische Aktivitäten zurückzuführen. Während diese Problematik für die Unternehmen nicht neu ist, sind es die Möglichkeiten ihr mittels KI-Technologie zu begegnen schon. Sie steigert den Automatisierungsgrad und die Erkennungseffizienz in der Betrugserkennung, was insbesondere in Bereichen mit sogenannten Mengenschäden Vorteile bietet. Völlig autonom arbeiten die KI-Systeme in diesem sensiblen Bereich aber nicht. Vielmehr unterstützen sie die Schadenexperten mit Hinweisen, Empfehlungen und Einschätzungen bei der Aufdeckung von potenziellen Betrugsfällen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen dadurch mehr Zeit für komplexe Fälle.

Zudem sind KI-basierende Systeme lernfähig. Das bedeutet für die Betrugserkennung, dass sie neuartige Missbrauchsmuster schnell erkennen. Versicherer können auf dieser Grundlage neu auftretenden Maschen aus dem kriminellen Milieu effektiv begegnen. Wie bereits erwähnt steht die Anwendung solcher KI-Lösungen im engen Zusammenhang mit Explainable AI. Nicht alles, was technisch möglich ist, dürfen Versicherer im Rahmen geltender Regulierungsvorschriften auch ohne weiteres nutzen.

Anwendungsfälle in allen Kernprozessen

In Summe zeigt sich, dass ganz unterschiedliche Hebel einen verstärkten Einsatz von KI im Versicherungssektor bestimmen. Entwicklungen bei technologischen Möglichkeiten, regulatorischen Vorgaben oder der Offenheit von Unternehmen für weitere Digitalisierung stechen hier hervor. Stehen alle Zeichen auf grün, bleibt die Frage: Wo genau soll KI denn zum Einsatz kommen? Global gesehen gibt es keinen Bereich bei einem Versicherer, bei dem der Einsatz von KI keinen Sinn ergibt.

Entlang der gesamten Wertschöpfungskette lassen sich zahlreiche denkbare Einsatzfelder identifizieren. In der Produktentwicklung etwa bietet KI großes Potenzial für die Individualisierung von Tarifen und Leistungen. Im Marketing und Vertrieb trägt die Technologie dazu bei, das Kundenerlebnis zu optimieren. Dabei geht es um Verhaltens- und Bedarfsprognosen, eine kundenindivi- duelle Ansprache, Kundensegmentierung, ganzheitliche Profilanalyse und die Kommunikation via Chat- oder Telefonbot. Im Underwriting kann KI bei der Risikoprüfung und -bewertung unterstützen, den Kauf von Rückversicherung dynamisieren und optimieren oder bei der Risikoüberwachung helfen.

KI kommt

Die Versicherungsbranche hat bislang keine Vorreiterstellung beim KI-Einsatz eingenommen. Die Unternehmen befinden sich noch am Anfang ihres Weges. Sie haben erkannt, welche Mehrwerte moderne Technologien bieten, stehen aber zugleich vor branchenspezifischen Hürden. Der genaue Blick auf die aktuellen Entwicklungen zeigt, dass künftig voraussichtlich mehr dedizierte Anwendungsfälle von KI im Versicherungsumfeld zu sehen sein werden. Zum Vorteil der Unternehmen, aber auch der Versicherten.

Die Autoren: Jan Jungnitsch ist Competence Center Leiter bei
der adesso SE im Bereich Insurance, und Ann-Kathrin Bendig ist Consultant bei der adesso SE im Bereich Insurance. Gemeinsam leiten sie die Community of Practice Künstliche Intelligenz innerhalb des Bereichs Insurance und sind somit die zentralen Ansprechpartner rund um das Thema KI im Kontext Versicherungen.

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