Versicherungsvertrieb: Der Digitalisierungsturbo mischt die Karten neu

Foto: Stuttgarter
Michael Krebbers, Stuttgarter: „Es gilt, neue digitale Services mit der bewährten, persönlichen Beratung zu verbinden.“

Die Coronapandemie hat den digitalen Wandel massiv beschleunigt. Digitale Geschäftsmodelle und hybrider Vertrieb profitieren vom Wandel. Doch wie werden Vermittler in die Digitalstrategien der Versicherer eingebunden? Und welche Rolle spielen Plattformen und Ökosysteme?

Die digitale Transformation war bereits vor der Coronapandemie ein Megatrend. Die vergangenen 16 Monate waren schließlich der Turbo für den technologischen Umbruch und haben den Wandel massiv angeschoben. Das mehrfache Herunterfahren des öffentlichen Lebens während der Pandemie hat Kunden nicht nur scharenweise zu Versandhändlern wie Amazon getrieben.

Auch die Nachfrage nach Versicherungen hat sich deutlich in Richtung digitaler Informationen und Abschlüsse verschoben. Das belegt das neue Insurtech-Radar 2021 der Unternehmensberatung Oliver Wyman und Policen Direkt. Danach konnten 80 Prozent der endkundenorientierten B2C-Insurtechs mehr Kunden gewinnen, als vor der Pandemie.

„Über 20 Prozent konnten die Zahl ihrer Neukunden sogar um mehr als 50 Prozent steigern“, erklärt Dr. Dietmar Kottmann, Co-Autor und Partner bei Oliver Wyman und Leiter für das Versicherungsgeschäft in Deutschland.

Doch nicht nur bei Endkunden konnten die Insurtechs neue Pflöcke einrammen. Bei Insurtechs, deren Primärkunde die etablierte Versicherungswirtschaft ist, sogenannte B2B2C-Modelle, war die Entwicklung noch ausgeprägter: Über 80 Prozent von ihnen gewannen mehr Vertragspartner als vor der Pandemie, über ein Drittel notierten sogar einen Zuwachs von mehr als 50 Prozent. „Dies ist eine deutliche Indikation, dass es bei Versicherern eine erhöhte Nachfrage nach digitalen Versicherungslösungen gibt und diese verstärkt Lösungsangebote von Insurtechs suchen und nutzen“, stellt Kottmann fest.

Zukaufen oder selbst mitgründen, was sich in den Strukturen im eigenen Haus nicht selbst entwickeln lässt, lautet die Devise. Wie stark sich die etablierten Versicherer engagieren, zeigt die neue Studie ebenfalls. Vor allem die Neocarrier, die klassische Versicherungsprodukte digital neu interpretieren, sind im Fokus. „Neocarrier sind das heimliche Spielfeld der Assekuranz geworden. Bei mindestens 18 Insurtechs ist die etablierte Versicherungswirtschaft stark engagiert“, erklärt Dr. Nikolai Dördrechter, Co-Autor, Insurtech-Experte und Co-Founder der Policen Direkt-Gruppe. Insurtechs hätten einen wesentlichen Beitrag zum Umdenken in der Branche geleistet und wichtige Impulse gesetzt.

„Und sie haben gestandene Vorstände im fortgeschrittenen Alter dazu bekommen, sich mit den Chancen der Digitalisierung und deren Notwendigkeit ernsthaft auseinanderzusetzen. Insurtechs sind zu einer treibenden Kraft der digitalen Transformation der Branche geworden. Zu Recht kann man den Insurtechs hierbei eine Katalysator-Rolle zusprechen“, sagt Dördrechter.
Aber nicht nur Insurtechs haben gewonnen. Auch bei etablierten Versicherern blieben die Produktivitätseinbrüche aus.

Für Dr. Dirk Schmidt-Gallas, Senior Partner und Leiter des Versicherungs-Practice bei der Unternehmensberatung Simon-Kucher, ist es schon bemerkenswert, dass die Versicherer plötzlich Dinge realisieren konnten, die vorher gefühlt zwei Jahre gedauert haben. „Die ansonsten mitunter schwerfällige Branche hat im vergangenen Jahr erstaunlich schnell auf die Coronakrise reagiert“, so Schmidt-Gallas. Das ist in der Tat bemerkenswert, da die Versicherungswirtschaft gemeinhin nicht als besonders innovativ und anpassungsfähig gilt.

Neodigital Vertriebsvorstand Stephen Voss zeigt sich indes wenig überrascht von der Entwicklung: „In einem Markt, der plötzlich einen Großteil seiner Kundeninteraktion verloren hat, führte die Pandemie dazu, das eigene Vertriebsmodell zu schärfen und mögliche Schwachstellen in der durchgehenden Digitalisierung im Vertrieb aber auch im Betrieb und Schaden zu identifizieren und Anpassungen vorzunehmen. Einige digitale Lücken in den Geschäftsmodellen der etablierten Versicherungsunternehmen haben sich in der Pandemie offenbart. Diese können nun geschlossen werden.“

Neocarrierer, die Versicherungsprodukte digital neu interpretieren, sind im Fokus der etablierten Versicherer. Spannend wird nun, in welchen Bereichen der Versicherungswirtschaft die Digitalisierung zu neuen Impulsen führt. „Die Pandemie hat klar gezeigt, dass bei fast allen Marktteilnehmern dringender Handlungsbedarf besteht“, sagt Dr. Sebastian Grabmaier, Vorstandsvorsitzender von Jung, DMS & Cie (JDC).

Dabei seien die Herausforderungen für Pools und deren Vertriebspartner sowie für Versicherer letztlich nahezu identisch. „Es gilt einerseits Kunden, die im Internet nicht nur Informationen suchen, in Form von einfachen Online-Abschlussstrecken Lösungen anzubieten, und andererseits auch allen anderen Kunden in Form von einfachen Übersichten und Transaktionsmöglichkeiten über Smartphone, Tablet oder PC einen digitalen Standard zu bieten, den sie von den meisten anderen Branchen bereits gewohnt sind“, erklärt Grabmaier.

Denn Versicherungskunden verstünden nicht, warum eine amerikanische Plattform einen Liter Milch in zwei Stunden vor die Haustüre liefern könne, eine marktführende Versicherung aber für eine E-Mail mit einer Versicherungspolice zwei Wochen brauche. Grabmaier hat vollkommen recht.

Denn wie kann es sein, dass ich eine Rechnung für eine einfache Zahnreinigung per App bei meiner Zahnzusatzversicherung zwar digital einreichen kann, dann aber rund sechs Wochen auf die Erstattung warten muss? „Die Kunden sind hier schon konditioniert. Wie gut oder wie schlecht ein Versicherer hierauf eingestellt ist, ist nicht mehr die Frage. Sie müssen sich darauf einstellen. Zeit wird zu einem immer wichtigeren, weil konkret erlebbaren Servicefaktor. Da wird und muss der Vertrieb mitziehen“, sagt Voss.

Fakt ist, dass sich in den vergangenen Jahren das Konsumverhalten der Kunden entlang der Customer Journey verändert hat. Die Pandemie hat den Trend weiter forciert. „Spätestens seit Covid-19 haben die Vermittler die Notwendigkeit erkannt und die Leistungsfähigkeit digitaler Vertriebstools schätzen gelernt. Mehr noch: Vermittler wie Kunden haben erleben können, dass man sich nicht immer nur persönlich treffen muss.

Für Vermittler schafft das die Möglichkeit, anstatt drei bis vier Kundenterminen plötzlich zehn Termine zu vereinbaren, ein enormer Effizienzgewinn. Nach der Pandemie wird es sicher wieder mehr persönliche Treffen geben, aber die digitale Komponente, die Beratung wird hybrid bleiben. Insofern sind viele Vermittler schon digitalaffiner, als man vermuten würde“, zeigt sich Dördrechter, überzeugt.

War früher „boots on the ground“, das entscheidende Kriterium für den vertrieblichen Erfolg, hat der Digitalisierungsturbo die Karten im Markt neu gemischt. Das hat Auswirkungen auf die Arbeit der Vermittler, die sich nun neu aufstellen müssen. „Das digitale Geschäft wächst weiter und entwickelt sich dynamisch. Die Pandemie hat aber auch einmal mehr deutlich gemacht, dass die meisten Kunden auf ihre persönlichen Berater nicht verzichten wollen, auch wenn sie die Annehmlichkeiten der Digitalisierung gerne nutzen. Hier gilt es, neue digitale Services mit der bewährten persönlichen Beratung zu verbinden“, sagt Peter Stockhorst, Vorstand Direct & Digital bei der Zurich Gruppe Deutschland.

„Eine starke Positionierung der Vermittler im Web ist für die zunehmend digitale Zukunft entscheidend. Die Kunden sollen sich beim Partner nicht nur informieren, sondern auch kaufen können. Dafür müssen sie ganz einfach mit ihrem Berater interagieren können“, ist sich Stockhorst sicher. Bei der Umsetzung der digitalen Transformation arbeitet der Versicherer mit den Vermittlern eng zusammen. „Es ist unser Anspruch, unseren Vermittlern eine wettbewerbsfähige Website zur Verfügung zu stellen. Diese ist das neue Agentur-Schaufenster, denn der Erstkontakt entsteht mehr und mehr online“, formuliert der Digital-Vorstand den Anspruch.

Auch die LV 1871 unterstützt ihre Vertriebspartner, gerade weil die Orientierung im Digitalisierungsdschungel alles andere als einfach ist. „Mit unserem umfassenden B2B2C-Angebot helfen wir unseren Geschäftspartnern dabei, ihren digitalen Fußabdruck zu vergrößern und sich zukunftsfähig aufzustellen“, erklärt LV 1871-Vorstand Hermann Schrögenauer. Es geht hierbei um Punkte wie die Sichtbarkeit im Netz, die Content-Entwicklung und das komplexe Thema Datenschutz.

Zudem spielt die Infrastruktur für Vermittler eine wichtige Rolle, denn für den einzelnen ist sie oft zu teuer oder es fehlt das technische Know-how. „Neben Web-Days, Online Summer und Winter Schools oder Ask-me-anything-Sessions haben wir deshalb im vergangenen Jahr auch das Digital Partner Programm und die LV 1871 Media Hubs als Teil unserer Filialdirektionen eingeführt.

Neben den bekannten Vertriebsservices werden Vermittler dort bei der Erstellung von audiovisuellem Content – vom Video-Einspieler über Social-Media-Content bis hin zu Podcasts – in einem professionell ausgestatteten Studio unterstützt. Gleichzeitig können sie die Infrastruktur der Media Hubs auch für Onlineberatung und -konferenzen nutzen. Es finden Trainings und Coachings durch die Experten und Expertinnen der LV 1871 vor Ort statt und es gibt Support bei Fragen zu Produkten und Services“, erklärt der Vorstand.

„Der persönliche Kontakt gerade in den beratungsintensiven Kerngeschäftsfeldern Leben und Unfall ist und bleibt wichtig.“

Ob diese Maßnahmen allerdings auf fruchtbaren Boden fallen, dürfte nicht zuletzt auch von der digitalen Affinität und dem digitalen Reifegrad der Vermittlerinnen und Vermittler abhängen. „Größere Vermittler schätzen die Effizienzvorteil digitaler Verkaufs- und Kommunikationsstrecken. Und auch die Schnelligkeit digitaler Ende-zu-Ende-Strecken“, weiß Stuttgarter Chief Operation Officer Michael Krebbers. Einzelvermittler, die sehr lange in analogen Abschlussstrecken erfolgreich waren, tun sich dagegen mit rein digitalen Lösungen schwerer. „Das liegt zum einen am fehlenden digitalen Mindset und zum anderen an den Rüstkosten der Digitalisierung“, sagt der Experte.

Unabhängig davon bleiben die „,Boots on the ground’ ein wichtiges Kriterium für den vertrieblichen Erfolg. Davon ist auch Krebbers überzeugt. Natürlich hätten sich Videoberatung sowohl B2B als auch B2C etabliert und Online-Seminare seien im B2B-Bereich zum Standard entwickelt. „Der persönliche Kontakt gerade in den beratungsintensiven Kerngeschäftsfeldern Leben und Unfall ist und bleibt wichtig. Hier wird sich die Zukunft hybrid gestalten: mit und ohne medial-digitale Unterstützung“, argumentiert Krebbers.

Und erst wenn beispielsweise Chatbots in der Lage seien, auch komplexe Beratungssituationen der Altersvorsorge zu meistern, würden Vermittler und Versicherer den nächsten Schritt in der Evolution gehen. Ähnlich sieht es JDC-CEO Grabmaier: „Manche Versicherungslösungen brauchen in der Tat wenig Beratung und können vom Endkunden problemlos online erledigt werden. Dagegen sind viele Produkte, die langfristig angelegt sind und wichtige Bereiche des Lebens betreffen – etwa in der Altersvorsorge oder dem Portfoliomanagement – erklärungsbedürftig, und hier wollen Endkunden auch eine kompetente, persönliche Beratung.“ Insofern sei auch in der zunehmend digitalisierten Vertriebswelt ein enger Kundenkontakt weiter wichtig. „In einem hybriden Modell allerdings in Kombination mit innovativer, digitaler Vertriebstechnologie“, so Grabmaier.

Ende Juni 2021 arbeiteten 199.645 Vermittlerinnen und Vermittler in der Branche. 2018 waren es rund 11.000 mehr. Nicht nur Versicherer, sondern auch Pools, Vertriebe und besonders Vermittlerinnen und Vermittler bekommen den Kostendruck zu spüren. Sie suchen neue Vertriebsansätze. „Ich befürchte, dass der eine oder andere in den nächsten Jahren unter die Räder kommen wird. Einfach, weil er mit der Schnelligkeit der Transformation nicht mehr Schritt halten kann“, sagt Melanie Freund, Leiterin des Fachbereichs Schaden, Unfall, Haftpflicht beim Hamburger Analysehaus Softfair.

Peter Stockhorst, Zurich: „Die Webseite wird das neue Agenturschaufenster.“

Eine Studie von Oliver Wymann erwartet, dass der Vertrieb sich bis 2030 deutlich verändern wird. „Die größte Änderung wird sich im ungebundenen Vertrieb – also Maklern, Banken aber auch Vertrieben ergeben. Denn der wird in 2030 zu 63 Prozent Plattformen einsetzen“, sagt Oliver Wymann-Partner Kottman. 2018 lag die Vergleichszahl nur bei nur 23 Prozent. „Das wird die Branche verändern. Plattformen sorgen für mehr Transparenz und einen unmittelbareren Wettbewerb. Versicherer, die sich auf diese entstehenden Plattformökonomie nicht ausrichten, werden es schwer haben“, zeigt sich der Experte überzeugt.

Eine entscheidende Rolle wird hierbei die Implementierung von Künstlicher Intelligenz spielen. „Künstliche Intelligenz ist eine Schlüsselkompetenz. Nicht mehr nur in der Konvertierung von analogen Prozessen, sondern auch im Vertrieb. Manche Vertriebs-Plattformen arbeiten bereits mit Systemen, die unter Einsatz von KI das Datenmanagement und die Pflege von Bestandsdaten – beispielsweise bei der Zusammenführung von Kundendaten – unterstützen. Im Versicherungsmodell der Zukunft werden deutlich mehr Prozesse auf Plattformen ausgelagert, so dass alle Beteiligten von deren Effizienz und Schnelligkeit profitieren“, prophezeit Mobilversichert-Geschäftsführer Dr. Mario Herz.

„Financial Homes bieten Lösungen für alle Finanz- und Versicherungsfragen aus einer Hand. Convenience, Bequemlichkeit, zählt.“

JDC arbeitet mittlerweile mit einer Plattformtechnologie. „Dadurch sind wir sehr gut aufgestellt, weil wir etwa über unsere Finanz- und Versicherungs-App „allesmeins“ und über unser innovatives Verwaltungsprogramm „iCRM“ sowohl Kunden als auch Vermittlern marktführende, digitale Tools zur Verfügung stellen. Damit können bei uns angeschlossene Makler und Mehrfachagenten Ihren Kunden ein so genanntes „Financial Home“ bieten, über das sämtliche Finanz- und Versicherungsbelange für deren Kunden transparent angezeigt und abgewickelt werden können“, sagt Grabmaier.

Die Studie von Oliver Wymann sagt, dass der Trend zum Financial Home das Potenzial habe, die etablierten Beziehungen zwischen Anbietern und Kunden in der Finanz- und Versicherungsbranche aufzubrechen und die Marktanteil neu zu verteilen. Die neuen Technologien, schüfen smarte, vernetzte Ökosysteme oder Plattformen, die Kundenbedürfnisse adressierten. „Financial Homes bieten Lösungen für alle Finanz- und Versicherungsfragen aus einer Hand an. Das ist für viele Kunden zunehmend attraktiv – ähnlich einer Pauschalreise. Alles kommt aus einer Hand und ist aufeinander abgestimmt. Convenience, also Bequemlichkeit, zählt“, bestätigt auch Krebbers.

Die Attraktivität des Financial-Homes-Ansatzes liegt für Versicherer darin, dass sie von hohen Zugriffsfrequenzen profitieren können und sichtbarer sind als im Rahmen singulärer Lösungen. Eine Herausforderung dürfte für die Unternehmen allerdings sein, dass sie – wie im Fall von JDC – nur Zulieferer sind. „Hier ist Exzellenz ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Versicherer, die nicht selbst Anbieter beziehungsweise Betreiber eines Ökosysstems sind. Das gilt für Produkte, Prozesse und die Services“, gibt Krebbers zu bedenken. Zustimmung kommt von Neodigital-Vorstand Voss: „Das Produkt spielt nur einen Teil der Rolle.

Dazu kommen noch die digitale Verarbeitbarkeit, agile Einbindung in bestehende technologische Systeme, zeitgleiche synchrone Verarbeitung sowie performante Schnittstellen. Wer als Versicherer diese Attribute beherrscht, ist dann auch nicht mehr austauschbar. Allerdings bedeutet das auch im Umkehrschluss: einzig ein gutes Produkt anzubieten, reicht nicht mehr.“

Voss ist sicher, dass der Vertrieb sich mit dieser Konkurrenz auseinandersetzen wird. „Es wird zu Verschiebungen kommen. Vermittler, die sich auf ihre Kernkompetenz „Beratung“ konzentrieren und damit das Vertrauensverhältnis zum Kunden halten, werden hier weiterhin ihren Platz im Markt haben“, ist Voss überzeugt.

Jörg Droste, Cash.

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