Schwache Wirtschaft, niedrige Inflation, hohe Staatsverschuldung: Europa in der Krise?

Seit Anfang des Jahres häufen sich die negativen Wirtschaftsmeldungen: Immer weiter werden Konjunkturprognosen nach unten korrigiert und im Mai entfernte sich auch die Inflation wieder deutlich von der 2- Prozent-Zielmarke der EZB. Gleichzeitig sind die hohen Verschuldungsquoten und Reformstaus vieler europäischer Staaten bedenklich. Ein Kommentar von Michael Neumann, Vorstandsvorsitzender der Dr. Klein Privatkunden AG.

Michael Neumann, Vorstandsvorsitzender der Dr. Klein Privatkunden AG

„Die EZB selbst kann wirtschaftliche Probleme nicht dauerhaft lösen“, erklärt Michael Neumann, Vorstandsvorsitzender von Dr. Klein. „Die europäische Notenbank hat mit der lockeren Geldpolitik der letzten Jahre nur dafür gesorgt, dass die nationalen Regierungen Zeit haben, ihre Wettbewerbsfähigkeit mit strukturellen Reformen zu verbessern. Leider haben die wenigsten Regierungen das geldpolitische Umfeld in den letzten Jahren konsequent genutzt.“

Das wird jetzt zum Problem

Der Leitzins in Europa liegt bei null Prozent, der Einlagezins für Banken sogar bei minus 0,4 Prozent und das billionenschwere Anleihekaufprogramm wurde gerade erst eingestellt. Die Optionen für eine zusätzliche Lockerung der Geldpolitik sind daher begrenzt. In der letzten EZB-Sitzung reagierten die
Notenbänker auf die wirtschaftliche Situation zunächst mit einer Anpassung ihrer „Forward Guidance“:

Sie heben den Leitzins bis mindestens Mitte 2020 nicht an. Außerdem legten die Währungshüter die Konditionen der ab September geplanten Langfristkredite für Banken (Targeted Longer-Term Refinancing Operations, kurz TLTRO) fest. Die Langfristkredite sollen die Kreditvergabe ankurbeln und werden bereits zum dritten Mal eingesetzt – dieses Mal fallen sie allerdings weniger lukrativ aus als zuvor.

Auf dem EZB-Notenbankforum in Portugal legte Draghi am Dienstag nach und stellte eine weitere Lockerung der Geldpolitik in Aussicht – etwa durch eine erneute Senkung des Leitzinses oder eine Neuauflage der Anleihekäufe. „Vermutlich werden in der medialen Diskussion über die geeigneten Maßnahmen auch radikalere Mittel wie das sogenannte „Helikoptergeld“ wieder diskutiert– vor allem, wenn die Inflation droht, gegen „0“ zu gehen“, so die Einschätzung Neumanns.

Fed-Sitzung: Leitzinssenkung im zweiten Halbjahr?

Auch in den USA trübt sich die Konjunktur derzeit ein: Die Inflation schwächt sich ab und die jüngsten Arbeitsmarktdaten blieben hinter den Erwartungen zurück. Im Gegensatz zur EZB hat sich die amerikanische Notenbank mit den Zinsanhebungen im vergangenen Jahr allerdings deutlich mehr Spielraum verschafft, um nun wieder gegenzusteuern. Auf der aktuellen Sitzung blieb der Leitzins zwar vorerst unangetastet, doch die Fed blickt aber weniger optimistisch in die Zukunft und signalisiert damit eine zukünftig lockerere Geldpolitik.

Der größte Unsicherheitsfaktor für die amerikanische Wirtschaft ist und bleibt der Handelskonflikt mit China. Wann genau die erste Zinssenkung erfolgt, hängt daher auch von der weiteren Entwicklung des Zollstreits ab.

„Da sich Trump gern als „Deal-Maker“ positioniert, gehe ich davon aus, dass er den Handelskonflikt vor der Wahl Ende 2020 mit einem guten Deal abschließen will, um seine Erfolge im Wahlkampf feiern zu können. Bis dahin rechne ich damit, dass er die Konflikte weiter am Köcheln hält. Das wird weiter auf der konjunkturellen Entwicklung lasten und ich erwarte einen oder sogar mehrere kleine Zinssenkungen der Fed im zweiten Halbjahr 2019“, erklärt Michael Neumann.

Neue Rekorde: Negativrendite der zehnjährigen Bundesanleihe und Bauzinstief

Am 18. Juni brach die zehnjährige Bundesanliehe erneut einen historischen Rekord: Die Negativrendite liegt nun bei -0,3 Prozent. Und ein Ende des Sinkflugs ist aktuell nicht in Sichtweite: „Sollte die EZB konkrete Signale für eine Leitzinssenkung oder eine Wiederaufnahme des Anleihekaufprogramms senden, wird die Rendite der Bundesanleihe weiter unter Druck sein“, so Michael Neumann.

Ende Mai erreichten auch die Bauzinsen, die sich an der Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe orientieren, zum zweiten Mal in der Geschichte das Rekordtief von 0,68 Prozent. Der Zinsexperte Neumann erwartet auch im zweiten Halbjahr 2019 anhaltend niedrige Bauzinsen. „Die Liste der ungelösten Probleme ist lang: die anhaltende Konjunkturschwäche, eine niedrige Inflation, Handelskonflikte, Verschuldungsquoten, der Brexit und andere geopolitische Risiken – all diese Herausforderungen sind nicht kleiner geworden in den letzten Monaten und dürften uns noch einige Zeit beschäftigen.“

 

Foto: Dr. Klein Privatkunden AG

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