1. Einstieg: Ein Dauerthema in Unternehmerkreisen
Wenn ich in den letzten Monaten mit Unternehmern gesprochen habe, war ein Thema fast immer präsent: Auswandern. Manche sind schon gegangen, andere bereiten den Schritt gerade vor, und wieder andere bleiben – nicht aus Überzeugung, sondern weil Familie, Kinder oder rechtliche Hürden sie binden. Für viele wirkt es, als sei die Bundesrepublik inzwischen ein Land, das seine Leistungsträger aktiv vertreibt. Diese Beobachtung ist kein Randphänomen mehr, sondern Alltag. Und genau deshalb lohnt es sich, nüchtern zu betrachten, was dahintersteckt – und welche Mythen rund um Steuern, Pflichten und Moral die Debatte oft verzerren.
2. Wegzugsbesteuerung: Der zentrale Stolperstein
Das wohl größte Hindernis für Unternehmer ist die Wegzugsbesteuerung (Paragraf 6 Gesetz über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen/AStG). Sie trifft alle, die mindestens ein Prozent an einer Kapitalgesellschaft gehalten haben – auch rückwirkend, wenn dies irgendwann in den letzten fünf Jahren der Fall war – und die ihre unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland aufgeben.
Das Prinzip: Das Finanzamt unterstellt eine fiktive Veräußerung deiner Anteile und besteuert den Gewinn, als hättest du sie tatsächlich verkauft. Grundlage ist der gemeine Wert der Anteile. Hier kommt das berüchtigte vereinfachte Ertragswertverfahren ins Spiel: Dabei wird der Gewinn mit einem gesetzlich festgelegten Faktor von 13,75 multipliziert (Paragrafen 199–203 Bewertungsgesetz/BewG). In der Praxis kann das utopisch hohe Steuerforderungen erzeugen, weil auf „Papiergewinne“ Steuern fällig werden – ohne dass Geld geflossen ist.
Hinzu kommt: Die seit 2022 geltenden ATAD-Regeln (Anti-Steuervermeidungsrichtlinie) haben die früher großzügigen Stundungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt. Zwar gibt es noch Stundungen und Rückkehrregelungen (bis zu 7, auf Antrag 12 Jahre), aber die „ewige Stundung im EU-Ausland“ ist Geschichte. Wer also ins Ausland zieht, muss frühzeitig planen – oder läuft Gefahr, bei Wegzug eine Steuerlast in Millionenhöhe zu realisieren, die de facto nicht zahlbar ist. Ab 2025 wird die Wegzugsbesteuerung sogar auf Investmentfondsanteile ausgeweitet – ein Detail, das viele noch nicht auf dem Schirm haben.
3. Erweiterte beschränkte Steuerpflicht: Die Zehn-Jahres-Nachwirkung
Viele glauben: „Wenn ich weg bin, bin ich weg.“ Aber so einfach ist es nicht. Wer als deutscher Staatsbürger in ein Niedrigsteuerland zieht und weiterhin wesentliche wirtschaftliche Interessen in Deutschland hat oder sogenanntes Floating Income hat (betriebsstättenlose Einkünfte), kann bis zu zehn Jahre nach Wegzug der erweiterten beschränkten Steuerpflicht (Paragraf 2 AStG) unterliegen.
Das bedeutet: Deutschland behandelt dich steuerlich fast so, als wärst du noch hier.
- Freigrenze: Nur wenn die beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte ≤ 16.500 Euro pro Jahr bleiben, entfällt diese Nachwirkung.
- Progressionsvorbehalt: Deine in Deutschland erzielten Einkünfte werden mit einem Steuersatz besteuert, der sich nach deinem gesamten Welteinkommen richtet. Du musst also Auslandseinkünfte offenlegen, auch wenn sie dort versteuert werden.
- Umfang: Besteuert werden alle Einkünfte, die nicht klar als „Auslandseinkünfte“ (Paragraf 34d Einkommensteuergesetz/EStG) definiert sind.
International ist diese Regelung ein deutscher Sonderweg. Andere Länder kennen zwar auch Exit Taxes (zum Beispiel Frankreich, Kanada) oder sogar eine Bürgerbesteuerung wie die USA, aber eine so pauschale Zehn-Jahres-Nachwirkung gibt es fast nur hier.
4. Der Mythos der 183-Tage-Regel
Ein Klassiker in jeder Diskussion: „Unter 183 Tagen bin ich safe.“ – Das stimmt so nicht. Diese Zahl stammt aus Doppelbesteuerungsabkommen und bezieht sich vorrangig auf Arbeitnehmereinkünfte.
Für die deutsche Einkommensteuer gilt etwas anderes: Wer eine Wohnung (Paragraf 8 Abgabenordnung/AO) in Deutschland innehat oder sich gewöhnlich aufhält (Paragraf 9 AO), bleibt unbeschränkt steuerpflichtig. „Gewöhnlicher Aufenthalt“ ist schon nach sechs Monaten gegeben – unabhängig davon, ob es 183 Tage am Stück sind. Kurzunterbrechungen ändern nichts.
Fazit: Wer nicht sauber dokumentiert, wo der Lebensmittelpunkt liegt, riskiert, trotz Auswanderung weiterhin in Deutschland voll steuerpflichtig zu bleiben.
5. Moralische Debatte: „Geburtsschuld“ und Scheinheiligkeit
Kaum jemand diskutiert über Auswanderung, ohne dass sofort das Argument kommt: „Die sind dem Land etwas schuldig.“ Begründet wird das mit Schulbildung, Infrastruktur oder Sozialleistungen.
Dieses Argument hinkt gewaltig. Natürlich gibt es junge Auswanderer, die vor allem genommen und wenig gegeben haben. Aber der typische Unternehmer ist anders: Er hat über 10, 20 oder 30 Jahre enorme Steuern gezahlt, Sozialabgaben geleistet und das Gesundheitssystem kaum belastet. Er hat in vielen Fällen deutlich mehr eingezahlt, als er je herausbekommen hat.
Trotzdem wird er beim Wegzug behandelt, als müsse er dem Land „sein letztes Hemd“ lassen. Diese Haltung hat etwas zutiefst Scheinheiliges – gerade wenn man bedenkt, dass Deutschland damit weniger die Vergangenheit absichert, sondern schlicht Angst vor dem Verlust künftiger Steuerquellen hat.
6. Standort Deutschland: Warum so viele überhaupt gehen wollen
Jenseits der Steuerregeln gibt es strukturelle Gründe, warum Auswandern für Unternehmer attraktiv erscheint:
- Abgabenlast: Laut OECD hat Deutschland für Singles ohne Kinder die zweithöchste Steuer- und Abgabenlast weltweit – nur Belgien liegt höher.
- Bürokratie: Deutschland ist berüchtigt für lange Genehmigungsverfahren, komplizierte Steuererklärungen und hohe Regulierung.
- Digitalisierung: Mit einer Glasfaserabdeckung von rund 30 Prozent liegt Deutschland 2024 fast am Ende der EU-Rangliste – ein Armutszeugnis für ein Hochtechnologieland.
- Pflichtabgaben: Ab 2024/25 müssen Selbständige verpflichtend Altersvorsorgeprodukte nachweisen; zusätzliche Abgaben steigen weiter.
- Bildung: Viele Unternehmer, mit denen ich gesprochen habe, haben das Gefühl, dass die schulische Bildung in Deutschland immer schlechter wird. Genannt werden unter anderem der hohe Anteil nicht deutschsprachiger Kinder in Grundschulen, ideologische Einflüsse wie Genderdebatten sowie insgesamt ein sinkendes Leistungsniveau.
- Sicherheit: Parallel wächst die Sorge um die innere Sicherheit. Immer mehr Menschen berichten, dass sie sich in Städten, Parks oder auf öffentlichen Plätzen – gerade am Abend – nicht mehr sicher fühlen. Ein Blick in die Kriminalstatistiken zeigt, dass diese Wahrnehmung nicht unbegründet ist.
All das macht den Standort für digitale Unternehmer unattraktiv. Wer ortsunabhängig arbeiten kann, zieht weg – nicht aus „Gier“, sondern aus individueller und rationaler Abwägung.
7. Gesellschaftliche Wahrnehmung: Wer geht, ist unsympathisch
Hinzu kommt ein kultureller Faktor: Wohlhabende oder erfolgreiche Menschen sind in Deutschland ohnehin unbeliebt. In meiner Kolumne „Reichtum: Darf man heute überhaupt noch reich werden wollen?“ habe ich beschrieben, wie stark das Bild „der Reichen“ negativ besetzt ist.
Wer nun geht, gilt schnell als unsolidarisch oder sogar egoistisch. In der öffentlichen Debatte tauchen Länder wie Dubai dann als „unsympathische Ausweichziele“ auf – dabei ist die Realität der Auswanderer oft viel differenzierter. Gleichzeitig bleiben öffentliche Diskussionen über soziale Verantwortung oder Steuersiedelverhalten einseitig: Der Schluss ist oft, dass Ausgewanderte dem Land etwas schulden – obwohl viele über Jahre oder Jahrzehnte mehr gezahlt haben, als sie je entnommen haben.
Statistisch gesehen tragen die obersten ein Prozent der Einkommensbezieher in Deutschland etwa 30,5 Prozent der gesamten Einkommensteuer, also weit mehr als ihren Anteil an der Bevölkerung – und zahlen damit überproportional viele Steuern. Das Top‑10 -Prozent‑Dezile zahlen laut einer Studie knapp 58 Prozent der Einkommenssteuer. Und dennoch: im öffentlichen Diskurs werden Reiche regelmäßig als unsolidarisch dargestellt, als diejenigen, die ihren „gerechten Anteil“ angeblich noch nicht geleistet haben – obwohl sie das längst tun. Zuletzt hat etwa SPD-Chef Lars Klingbeil in einem Sommerinterview genau in diese Richtung für noch höhere Steuern argumentiert.
Was sich fast noch absurder anfühlt: Sobald diese Menschen gehen, findet man wenig Verständnis dafür – weil sie dann dem System, wie es heißt, „nicht mehr zur Verfügung stehen“. Das ist keine Sorge um Solidarität, sondern: Der Kern des Problems ist, dass wir sie dann nicht länger schröpfen können.
Was ich dabei fast noch bemerkenswerter finde: Im Moment des Wegzugs taucht bei vielen Beobachtern plötzlich eine Art Vaterlandsgedanke auf – und zwar witzigerweise ausgerechnet im linken Spektrum, das solche Argumentationen sonst vehement ablehnt. Wenn es aber um wohlhabende Bürger geht, die ihre Freiheiten nutzen und das Land verlassen, würde man sie am liebsten noch ihr letztes Hemd hierlassen. Fast so, als ob der Reichtum der Bürger eigentlich dem Staat gehöre und privates Eigentum nur eine Art vorübergehende Leihgabe sei.
8. Persönliches Fazit
Ich sehe Auswanderung nicht als erstrebenswerten Trend, sondern als Symptom. Wenn wir an einem Punkt angekommen sind, an dem das „klügste Finanzmanöver“ für viele Unternehmer Auswandern heißt, dann läuft etwas schief – nicht bei den Unternehmern, sondern im System.
Der beste Finanztipp 2025 sollte nicht „Koffer packen“ lauten, sondern: „In Deutschland bleiben lohnt sich wieder.“ Davon sind wir jedoch weit entfernt.
Celine Nadolny ist seit 2022 Kolumnistin des Cash.-Magazins sowie von Cash.Online. 2019 gründete sie Book of Finance und wurde zu Deutschlands einflussreichster Sachbuchkritikerin. Mit mehr als 400 rezensierten Sachbüchern erhielt sie mittlerweile zwölf Branchenpreise, ist somit die mistausgezeichnete Finanzbloggerin der DACH-Region und wurde von Forbes auf die 30-Under-30 Liste aufgenommen. Celine möchte so viele Menschen wie möglich dazu inspirieren, mehr zu lesen, ihre Finanzen in die Hand zu nehmen und ein erfülltes Leben zu führen.