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Cordula Vis-Paulus: „Altersarmut bei Frauen ist oft mit Scham besetzt“

Cordula Vis-Paulus, German Pension Symposium, bAV-Expertin
Foto: German Pension Symposium
Cordula Vis-Paulus: "Über die Hälfte der Frauen sind auch dann noch in Teilzeit, wenn das jüngste Kind schon 18 ist."

Altersarmut bei Frauen ist kein Randthema. Cordula Vis-Paulus, bAV-Expertin, Maklerin und Initiatorin des German Pension Symposium im Gespräch mit Cash. - über den Gender Pension Gap, warum Frauen in der Beratung übersehen werden – und was Makler konkret tun können.

Welche Dimensionen hat der Gender Pension Gap in Deutschland?
Vis-Paulus: Die Hauptursache für den Gender Pension Gap ist ganz klar die übernommene Familienarbeit. Früher waren Frauen oft sechs Jahre am Stück raus aus dem Job – erst wegen der Elternzeit fürs erste Kind, dann kam schnell das zweite. In der Zeit sind sie für viele Berater schlicht aus dem Blickfeld verschwunden. Heute ist das anders: Viele meiner Kundinnen kommen spätestens nach zwei Jahren wieder, oft schon nach einem Jahr. Allerdings meistens in Teilzeit. Und das bleibt häufig so. Ich habe im Demografieportal eine Statistik gefunden, die mich sehr nachdenklich gemacht hat: Über die Hälfte der Frauen sind auch dann noch in Teilzeit, wenn das jüngste Kind schon 18 ist. Wer 18 Jahre lang Teilzeit arbeitet, fängt danach meist nicht plötzlich mit Vollzeit an. Das führt zu kleineren Renten, denn bei uns in Deutschland werden Entgeltpunkte auf Basis des Bruttogehalts vergeben. Wer nur ein Drittel verdient, bekommt auch nur ein Drittel der Entgeltpunkte – und das summiert sich. Dazu kommt: Viele Frauen arbeiten in typischen Frauenberufen, die schlechter bezahlt sind. Und natürlich spielt auch das Gender Pay Gap eine Rolle.

Das Thema Altersarmut bei Frauen erhält wenig Aufmerksamkeit – obwohl wir hier über die Hälfte der Gesellschaft sprechen. Wenn man sich die durchschnittlichen Alterseinkünfte anschaut, zeigt sich ein riesiger Unterschied: Frauen liegen im Schnitt bei 803 Euro, Männer bei fast 1.300 Euro. Warum wird dieses Thema eigentlich so wenig wahrgenommen?
Vis-Paulus: Ich beschäftige mich jetzt seit etwa vier Jahren intensiver mit dem Thema, vielleicht sogar noch etwas länger. Und klar, wenn man sich da richtig reingräbt, findet man viele Berichte, Reportagen, sogar TV-Sendungen. Aber das ist natürlich auch eine gewisse Blase. Für die breite Öffentlichkeit sieht das anders aus. Da taucht das Thema vielleicht mal zum Equal Pay Day auf oder in einer Fernsehsendung – aber dann nachts um 23:30 Uhr.


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Der NDR hatte Anfang 2024 einen sehr guten Beitrag, aber wer schaut da noch fern? Was wir auch merken: Altersarmut bei Frauen ist oft mit Scham besetzt. Sie ist nicht sichtbar, weil viele Frauen in Partnerschaften leben – oder, und das sage ich jetzt bewusst drastisch, sich aus Not auf Beziehungen einlassen, nur um abgesichert zu sein. Eine Frau hat es mir gegenüber mal ganz offen als „Altersarmutsprostitution“ bezeichnet.

Welche strukturellen Schwächen im Rentensystem führen Ihrer Meinung nach dazu, dass Frauen im Alter oft deutlich weniger Rente bekommen als Männer?
Vis-Paulus: Das Hauptproblem ist: Solange Care-Arbeit – also Kindererziehung, Pflege von Angehörigen – nicht wirklich vergütet wird, bleibt die Rentenlücke bestehen. Die Mütterrente mit ihren 20 Euro pro Kind ist da eher ein symbolischer Beitrag. Da müssten Sie schon, überspitzt gesagt, zwölf Kinder bekommen, um eine spürbare Rente aufzubauen. Dazu kommt: Rentenpunkte werden in Deutschland auf Basis des Bruttogehalts vergeben. Wer also nur halbtags arbeitet, sammelt eben auch nur halb so viele Rentenpunkte. Und das betrifft nun mal überwiegend Frauen, weil sie häufiger in Teilzeit arbeiten – oft aus familiären Gründen. Solange sich daran nichts ändert, wird sich auch an der Rentenlücke wenig ändern.

Die bAV könnte ein Lösungsweg sein. Allerdings nutzen wesentlich weniger Frauen als Männer die bAV. 77 Prozent der Männer haben einen BAV-Vertrag und nur 22,6 Prozent der Frauen. Wie kommt es zu diesem Ungleichgewicht?
Vis-Paulus: Das hat mehrere Ursachen. Tarifverträge klammere ich mal aus, da sind Arbeitgeber und Gewerkschaften ohnehin in der Pflicht. Aber in vielen Unternehmen, wo ein Unternehmer selbst ein Versorgungsmodell gestalten könnte, passiert oft nichts. Genau deshalb veranstalte ich das German Equal Pension Symposium – weil mir selbst irgendwann aufgefallen ist: Ich habe die Rentenlücke bei Frauen früher auch nicht beraten. Und damit kam sie in meinen Konzepten schlicht nicht vor. Das liegt auch daran, dass 90 Prozent meiner Kollegen Männer sind – und das Thema oft gar nicht auf dem Schirm haben.

Von betroffenen Frauen kommt selten eine konkrete Nachfrage wie: „Können Sie mir helfen, meine spätere Rente aufzubessern?“ Und auch beim Firmenchef landet das Thema meist nicht. Die Rentenlücke stirbt oft im toten Winkel – zwischen Schreibtisch und Kochtopf. Ich habe auf LinkedIn einen Post von Carina Bartmann gelesen, die eine Mutter zitiert: „Jetzt soll ich mich auch noch um Finanzen kümmern?“ Viele Frauen sind einfach erschöpft. Sie stemmen Familie, Haushalt, Job – und dann soll da noch Finanzplanung dazukommen? Es fehlen Zeit, Kraft und oft auch der Glaube an die eigene Finanzkompetenz. Kurz- und mittelfristig geht’s oft noch – Essen, Kleidung, Urlaub. Aber bei größeren Themen, wie Altersvorsorge, hört’s auf.

„Die Rentenlücke stirbt oft im toten Winkel – zwischen Schreibtisch und Kochtopf.“

Cordula Vis-Paulus

Meine Frau hat es durch ihre Eltern von Kindesbeinen an gelernt.
Vis-Paulus: Das ist ein ganz entscheidender Punkt: Es macht einen riesigen Unterschied, ob man mit einer Mutter oder Großmutter aufgewachsen ist, die abends die Aktienkurse auf den Tisch gelegt und darüber gesprochen hat – oder ob man gelernt hat, dass die Mutter vom Vater Haushalts- oder Taschengeld bekam und der Papa die großen Entscheidungen getroffen hat. Viele Frauen übernehmen diese Rollenbilder unbewusst bis heute. „Wir können nicht mit Geld umgehen“, „wir sind nicht risikoaffin“, „wir verstehen das eh nicht“ – das sind Sätze, die ich immer noch höre. Auf diesem Nährboden boomt die Coaching-Szene, aber das Problem sitzt tiefer.

Erschreckend ist: Auch heute noch sagen Frauen ganz selbstverständlich „Mein Mann ist meine Altersvorsorge“. Den Begriff hatte Helma Sick 1984 geprägt. Ich war in Berlin, da erzählte mir eine Bekannte von einer Frau in ihrer Verwandtschaft. Ihr Mann sagte plötzlich: „Das war’s.“ Und sie stand mit 60 da und fragte: „Aber du hast doch immer gesagt, du sorgst für mich für das Alter vor?“ Vor Gericht sagte er dann nur: „Hab ich halt gesagt.“ Das ist blindes Vertrauen – und zeigt, wie dringend wir Frauen befähigen müssen, ihre Finanzen selbst in die Hand zu nehmen. Denn das Gender Pension Gap ist die Summe all der kleinen Gaps, die sich über das Leben ansammeln. Und irgendwann lässt sich das nicht mehr aufholen.

Zurück zur bAV: Was können Makler konkret tun, um Frauen für die bAV zu gewinnen? Und mit welchen Argumenten können sie überzeugen – insbesondere, wenn Wissen, finanzielle Mittel oder Hintergrund fehlen?
Vis-Paulus: Viele Makler sagen immer noch recht großspurig: „Steuerklasse 5 ist doch ideal für die Gehaltsumwandlung – da spart man viel Steuern.“ Früher war das auch so, aber seit die Gleitzone bis 2.000 Euro reicht, ist dieser Steuervorteil längst nicht mehr so groß. Trotzdem kann man diesen Ansatz als Türöffner nutzen – allerdings mit einer anderen Perspektive. Oft höre ich von Frauen in Steuerklasse 5: „Von dem bisschen Gehalt will ich nicht auch noch was abgeben.“ Und das ist total verständlich. Aber dann lohnt es sich, den Blick zu weiten. Denn wer sitzt meist zu Hause am Esstisch, wenn die Frau Steuerklasse 5 hat? Jemand mit Steuerklasse 3 – also mit deutlich weniger Abzügen. In der bAV-Beratung liegt ja oft eine Gehaltsabrechnung vor. Wenn ich sehe, dass die Frau Steuerklasse 5 hat, kann ich als Makler doch mitdenken: Was kommt denn insgesamt in die Familienkasse? Oft fühlen sich Frauen für 100 Prozent Haushalt und 50 Prozent Job mit einem Teilzeitgehalt „belohnt“ – das ist frustrierend. Wenn man aber das Gesamtbudget der Familie einbezieht und nicht nur den Einzelverdienst, eröffnet das eine ganz neue finanzielle Gesprächsbasis.

„Statt konsequent zu handeln macht die Politik lieber Wahlgeschenke.“

Cordula Vis-Paulus

Wie kann man Paare zu einer fairen Verteilung motivieren?
Vis-Paulus: Ich glaube, ein ganz wichtiger Punkt ist das Mindset – also die innere Haltung zum Thema Geld. Es geht nicht nur um Wissen im fachlichen Sinne, sondern auch um das Gefühl der Berechtigung. Wenn aus zwei Einkommen plötzlich eins wird – plus Elterngeld und Kindergeld – dann gehört dieses Geld nicht nur demjenigen, der weiterhin arbeitet. Es ist das gemeinsame Einkommen für die Familie. Und das Elterngeld ist nicht „nur für die Frau“ oder denjenigen, der zu Hause bleibt. Dieses Verständnis fehlt oft – oder man hat es nie gelernt. Viele Frauen kommen aus Familien, in denen die Mutter nur Haushaltsgeld bekam. Und dann übernehmen sie dieses Rollenbild unbewusst. Manche brechen bewusst damit. Aber wenn zwei Menschen – Mann und Frau – mit unterschiedlichen Prägungen zusammenkommen, hilft es, das aktiv anzusprechen. Denn wenn beide verstehen: „Das ist unser gemeinsames Geld“, dann kann man sagen: „Und daraus finanzieren wir auch unsere Altersvorsorge – für beide.“ Da muss nicht einer mehr bekommen als der andere.

Wie sieht Ihr Beratungsansatz hier aus?
Vis-Paulus: Genau so. Es geht darum, Frauen aus dem Denken zu lösen – mein Einkommen, meine Verantwortung, mein Problem. Ich kenne das selbst. Als ich mit meiner Tochter Anni schwanger war, dachte ich plötzlich: „Wie soll ich von Elterngeld meinen Hausanteil, Kleidung, Windeln und alles andere bezahlen?“ Das gewohnte Einkommen bricht ein – und das ist frustrierend, selbst für jemanden, der beruflich mit Finanzen zu tun hat. In der Beratung spreche ich daher zuerst mit der Frau und erkläre, was es bedeutet, die Altersvorsorge zu pausieren. Drei Jahre beitragsfrei – das sind nicht nur 200 oder 300 Euro pro Monat, sondern durch Zins und Zinseszins können schnell 40.000 bis 60.000 Euro fehlen. Dann frage ich: „Gibt es einen Partner, mit dem wir das gemeinsam anschauen können?“

Manche wollen es allein stemmen, andere finden das Gespräch zu dritt hilfreich. Und oft reagieren die Männer sehr offen – besonders, wenn sie hören: Die Pause kostet Altersvorsorge im Wert eines Mittelklassewagens. Das wirkt. Ich arbeite gern mit einem einfachen Beispiel: Er verdient 2.800, sie 2.500 Euro, beide sparen zehn Prozent. Dann kommt ein Kind. Sie pausiert drei Jahre – 60.000 Euro Verlust. Er macht Karriere, legt 100.000 Euro drauf. Am Ende: Sie 1.500 Euro Rente, er 2.300 – ohne zweites Kind oder Teilzeit. So entstehen gewaltige Lücken, obwohl das ein ganz normaler Lebensverlauf ist. In der bAV habe ich als Beraterin noch mehr Gestaltungsspielraum.

Ich gehe nicht ins Gespräch mit der Forderung: „Geben Sie allen 100 Euro Zuschuss!“, sondern frage: Wie sieht Ihre Belegschaft aus? In der Metallverarbeitung braucht es andere Lösungen als in einem Kosmetikbetrieb mit 80 Prozent Frauen in Teilzeit. Wenn ich sehe: 70 Prozent Frauen, davon 80 Prozent in Teilzeit, erkläre ich dem Arbeitgeber, warum es Sinn macht, diese Gruppe gezielt zu fördern. Oft ist das gar nicht bewusst. Unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes lässt sich das rechtssicher und differenziert gestalten. Und über § 100 EStG kann der Arbeitgeber 30 Prozent der Förderung steuerlich geltend machen. Es lohnt sich also – menschlich und finanziell – genauer hinzuschauen.

In Ihrem Vortrag haben Sie das Verhalten von Frauen bei finanziellen Entscheidungen thematisiert. Welche psychologischen Hürden sollten Maklerinnen und Makler Ihrer Erfahrung nach in der Beratung kennen? Gibt es typische Muster oder besondere Herausforderungen?
Vis-Paulus: Auf jeden Fall – und zwar nicht nur psychologische Hürden, sondern auch hormonell bedingte. Es lohnt sich, genau zu hinterfragen: Was möchte eine Frau, wenn sie sagt, sie möchte ihren Vertrag beitragsfrei stellen und sich nicht mehr traut, 50 oder 100 Euro auszugeben? Meist geht es ja nicht darum, die Altersvorsorge zu beenden, was sie aber definitiv damit tut. Vielmehr fühlt sie sich in dem Moment finanziell überfordert – es geht um Entlastung, nicht um Aufgabe.

Deshalb ist es wichtig, nachzufragen: Was steckt wirklich dahinter? Was soll damit erreicht werden? Das Gespräch ist entscheidend – aber ohne Druck. Sonst fühlt sich die Kundin nicht nur von der Altersvorsorge abgewendet, sondern auch vom Berater. Und nein, ich glaube nicht, dass Frauen nur von Frauen beraten werden wollen. Manche wünschen sich klare Ansagen, andere wollen ihren Weg selbst gehen – auch wenn die Entscheidung nicht optimal ist. Dann kann man zumindest vereinbaren, später nochmal gemeinsam draufzuschauen. Was ich leider auch höre: „Warum soll ich Frauen beraten? Die brauchen dreimal so lange, stellen zu viele Fragen – da mach ich lieber drei schnelle Verträge mit Männern.“ Solche Aussagen bekomme ich leider immer wieder zu hören.

Welche politischen oder wirtschaftlichen Maßnahmen wären aus Ihrer Sicht notwendig, um den Gender-Pension-Gap nachhaltig zu verringern?
Vis-Paulus: Anfang März hat einer der GDV-Geschäftsführer ein betrieblich bestimmtes Opt-out gefordert. Warum sagen wir nicht: Ab dem 1.1.2026 muss jede Firma ein solches Opt-out einführen? Es muss kein Sozialpartner-Modell sein – so hätten wir schnell eine breite Abdeckung. Und jeder Arbeitgeber könnte das Konzept nutzen, um sein Image zu stärken. Um das Gender Pension Gap wirklich zu schließen, müsste man das Rentensystem von Erwerbstätigkeit oder Einkommen entkoppeln. In Ländern wie den Niederlanden oder Österreich gibt es eine Sockelrente für alle – teils höher als das, was Männer hier durchschnittlich bekommen. Dort tragen auch Gutverdiener mit, ohne mehr herauszubekommen. Die sozialen Lasten und Möglichkeiten sind schlicht anders geregelt als hier.

Es bräuchte also eine Reform?
Vis-Paulus: Das Prinzip der Freiwilligkeit – wir sehen jetzt seit über 22 Jahren, dass es einfach nicht funktioniert. Wie lange wollen wir noch zusehen? Statt konsequent zu handeln, macht die Politik lieber Wahlgeschenke – vor allem an Babyboomer und Ältere – an einer Stelle, wo eigentlich nur gesunder Menschenverstand gefragt wäre. Und dann kommt gleich die nächste Frage: Wenn man verpflichtende Modelle einführen würde, hätte man sehr viele Menschen einfach versorgt. Doch wer berät das alles?

Gerade die Menschen, die dringend Beratung brauchen, brauchen jemanden, der bezahlt wird. Doch in Berlin habe ich den Eindruck gewonnen: Der provisionsbasierte Berater soll möglichst raus. Das wäre aus meiner Sicht ein riesiger Fehler. Wer spricht denn sonst mit den Arbeitgebern, wer setzt die Konzepte um? Ein Beispiel: Wer Entgelt umwandelt und dann in Elternzeit geht, bekommt weniger Elterngeld. Das ist doch absurd. Da bringt jemand ein Kind zur Welt, trägt enorme Verantwortung, sorgt später für die Gesellschaft mit – und wird finanziell bestraft. Da kann man nicht von einem Webfehler im Gesetz sprechen, das ist eine bodenlose Unverschämtheit.

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