Aktien laufen in diesem Jahr wie geschnitten Brot. Das ist erstaunlich, da in unserer (Finanz-)Welt nicht eitel Sonnenschein herrscht. An den Börsen haben wir es mit einer „Wall of Worry“ zu tun: Aktionäre lassen schlechte Nachrichten und Risiken hinter sich, da für sie die Chancen überwiegen. Haben sie Recht?
An KI hängt es, zu KI drängt es
Seit den Tiefständen am 9. April hat der S&P 500 um über 30 Prozent zugelegt. Und einige Wall Street-Banken trauen dem US-Leitindex 7.000 Punkte bis Jahresende und bis 2026 sogar 9.000 zu.
Diese imposanten Prognosen, die die erklommenen Bewertungsberge nicht als zu hoch, sondern offensichtlich als neue Norm betrachten, dokumentieren einen festen Glauben in die unendlichen Weiten der Künstlichen Intelligenz. Dabei sind zunächst die Halbleitergiganten unersetzlich, die die Hardware-Grundlage für KI schaffen. Doch profitieren an der Börse ebenso Anbieter von Cloud Computing und KI-Infrastrukturen, Software- und Dienstleistungsunternehmen sowie Datenspeicheranbieter, denen die beispiellose Nachfrage nach Rechenzentrumskapazitäten zugutekommt.
Bei den großen Tech-Konzernen ist zudem eine immer stärkere horizontale wie vertikale Ausweitung zu beobachten. So sorgt beispielsweise Nvidia mit seinen Beteiligungen an Intel und OpenAI für geringere Klumpenrisiken und breitere Teilhabe an der gesamten Nahrungskette von High-Tech.
Grundsätzlich darf KI nicht mit dem Internet-Boom der späten 1990er-Jahre gleichgesetzt werden. Wir erinnern uns: Diese Epoche war geprägt von zahllosen unrentablen Startups der sogenannten Dotcom-Ära, viel Schaum, wenig Bier. KI dagegen basiert heute auf substanzstarken und hochprofitablen Unternehmen.
Hilfreich ist dabei sicher ein wirtschaftsfreundliches Umfeld in den USA. U.a. können Unternehmen Ausgaben für Ausrüstung, Maschinen sowie Forschung und Entwicklung sofort abschreiben. Die Deregulierung kommt hinzu.
Ebenso fördert die US-Geldpolitik die High-Tech-Branche. Ein weiterer Lockerungszyklus der Fed verringert nicht nur die Kreditkosten der amerikanischen Volkswirtschaft, sondern befördert auch viel Kapital aus geldmarktnahen Anlageklassen in den High Tech-Sektor. Auch ein Anleihen unfreundliches Szenario, weil nach Inflation von den Renditen nicht mehr viel übrigbleibt, wenn überhaupt, ist Wasser auf die Tech-Mühlen.
Nicht zuletzt leistet KI wertvolle Entwicklungshilfe für den gesamten Aktienmarkt. Alle Branchen und Unternehmen werden von KI über Automatisierung, Robotik oder Chatbots zu mehr Produktivität transformiert. Insofern wirkt KI seiner eigenen Marktdominanz entgegen. Zwar wird an Wall Street nicht an der Technologieführerschaft zu rütteln sein. Doch mit einer stärkeren Sektorrotation in dann leistungsfähigere Industriewerte bzw. in bislang vernachlässigte Mid and Small Caps wird der Aktienmarkt breiter, diversifizierter und damit stabiler.
Auch andere Regionen haben schöne Aktien-Töchter
Aber auch die Aktienchancen in Europa sollten nicht vergessen werden. Umfassende Staatsausgaben kommen der Infrastruktur und der Verteidigung zugute. In Europa werden sich immer mehr nationale Defense Champions herausbilden und eigene Ökosysteme für Verteidigungstechnologie aufgebaut, die sich vom bislang großen Bruder in Amerika weniger abhängig machen.
Ohnehin notieren viele europäische Aktien mit einem Bewertungsabschlag zur US-Konkurrenz. Diese bieten gemeinsam mit hohen Dividendenströmen ebenso Risikopuffer wie eine sich allmählich verbessernde Weltkonjunktur, von der vor allem Europas zyklische Titel profitieren.
Ebenso treten die sog. Schwellenländer – sie sollten passender neue Industrieländer genannt werden – nach etwa 10 Jahren Underperformance wieder aus dem Schatten der Industrieländer hervor.
Lange standen sie an der Spitze des globalen Zinserhöhungszyklus, um ihre Währungen zu schützen und Kapitalflucht zu verhindern. Aktuell erlaubt ihnen die nachlassende Stärke des US-Dollars Lockerungen, die Wachstum und Unternehmensgewinne ankurbeln. Dies erhöht ihre Attraktivität und das Aufholen der übergroßen Bewertungsabschläge.
Ebenso haben sie fundamental im Bereich IT, als Produzenten von vielfältigen Vorprodukten sowie Lieferanten von Rohstoffen und auch in Form dividendenstarker Titel einiges zu bieten.
Risiken sind eher überschaubar und Kursschwankungen bieten Vorteile
Die langfristigen Aussichten für Aktien aus den USA, aber auch aus Europa und den neuen Industrieländern klingen zu schön, um wahr zu sein.
Zum wahren Aktienleben gehören aber auch Risiken und Kursschwankungen. Eine Marktüberhitzung und hohe Bewertungen setzen Unternehmen unter Druck, die teils sehr hohen Erwartungen zu erfüllen. So könnte der Kursdruck bei einem der glorreichen sieben Tech-Unternehmen auch die gesamte Branche treffen.
Auch falkenhafte Äußerungen von Fed-Direktoren bergen zwischenzeitlich Enttäuschungspotenzial. Ebenso wirkt ein Shutdown der US-Regierung kontraproduktiv, obwohl er mittlerweile folkloristischen Charakter hat und am Ende immer wieder ein Kompromiss gefunden wird. Irritierend wären auch neue „Die Katze lässt das Mausen nicht“-Zollverschärfungen von Donald Trump. Immerhin bieten die abgeschlossenen Zolldeals deutlich mehr Planungssicherheit.
Angesichts der längerfristigen Chancen werden sich diese Risiken jedoch nur vorübergehend bemerkbar machen und bieten insofern gute Einstiegsmöglichkeiten für Anleger. Die Wall of Worry wird im Trend weiter erklommen.
Und über Volatilität muss sich kein Anleger aufregen. Sie ist ein Vorteil für regelmäßige Aktiensparpläne.
Ohne Vola, keine Cola!
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums 1990. Halver verfügt über langjährige Erfahrung als Kapitalmarkt- und Börsenkommentator. Er ist aus Funk und Fernsehen bekannt und schreibt regelmäßig für Cash.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.roberthalver.de/Newsletter-Disclaimer-725