Sozialstaat unter Druck: Wirtschaft warnt vor Kollaps, Experten fordern strukturelle Kehrtwende

Der Sozialstaat ist unter Druck.
Foto: Cash. ChatGPT
Die Warnungen mehren sich: Deutschlands Sozialsystem stehe am Rande eines Kipppunktes.

Die Warnungen mehren sich: Deutschlands Sozialsystem stehe am Rande eines Kipppunktes, der ohne tiefgreifende Reformen kaum noch aufzuhalten sei. Im aktuellen Newsletter des PKV-Verbands kommen Wirtschaftsvertreter und Wissenschaftler zu Wort. Und die zeichnen ein düsteres Bild.

Die Warnungen mehren sich: Deutschlands Sozialsystem stehe am Rande eines Kipppunktes, der ohne tiefgreifende Reformen kaum noch aufzuhalten sei. Im aktuellen Newsletter des PKV-Verbands kommen Wirtschaftsvertreter und Wissenschaftler zu Wort. Und die zeichnen ein düsteres Bild. Denn steigende Lohnnebenkosten, stagnierende Wirtschaft, fehlender Reformeifer könnten die Finanzierbarkeit des Sozialstaats in den kommenden Jahren überfordern.

Explodierende Kosten, stagnierendes Wachstum

Ausgangspunkt der Diskussion ist die aktualisierte Finanzplanung der Bundesregierung. Demnach klafft im Bundeshaushalt bis 2029 eine Lücke von 172 Milliarden Euro; das sind rund 30 Milliarden mehr als bisher angenommen. Finanzminister Lars Klingbeil machte deutlich, dass sich der Staat aus dieser Entwicklung nicht einfach „herausfinanzieren“ könne: „Langfristig wird es so nicht funktionieren, dass wir immer wieder die Probleme mit Steuergeldern lösen.“ Er fordert stattdessen: „Wir brauchen dringend ausgabensenkende Strukturreformen.“


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Dasselbe fordern die Wirtschaftsverbände – und das mit zunehmender Dringlichkeit. Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), warnt: „Wir können uns nicht mehr alles leisten, was wir uns wünschen.“ Die Lohnzusatzkosten hätten die politisch gesetzte 40-Prozent-Grenze längst überschritten – ein Rückgang sei nicht in Sicht. Für Dulger steht fest: Ohne Reformen droht der Kollaps.

„Wenn wir nicht abdichten, geht der Kahn komplett unter“

Noch drastischer formuliert es Handwerkspräsident Jörg Dittrich. Er vergleicht das deutsche Sozialsystem mit einem leckgeschlagenen Schiff: „Und wenn wir dieses nicht bald abdichten, wird der Kahn komplett untergehen.“ Seine Kritik richtet sich vor allem gegen das politische Zögern. Statt „butterweicher Aussagen“ brauche es ein „tragfähiges Gesamtkonzept“, auch wenn dies unpopuläre Maßnahmen bedeute.

Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands Die Familienunternehmer, warnt ebenfalls vor einem strukturellen Kipppunkt – Anfang der 2030er-Jahre. Wenn Reformen weiter verschleppt würden, sei der Sozialstaat bald nicht mehr finanzierbar. Die steigenden Lohnzusatzkosten würden den Handlungsspielraum für Unternehmer und Fachkräfte gleichermaßen einengen: „Schon jetzt ist Arbeit in Deutschland immer unattraktiver.“

Wettbewerbsfähigkeit unter Druck

Die Sorge um den Standort Deutschland zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge. Roland Angst, Präsident des Führungskräfteverbands ULA, fordert eine Wirtschaftspolitik, die Investitionen fördert – und eine Sozialpolitik, die Leistung anerkennt. Denn die umlagefinanzierten Sozialsysteme stoßen an ihre Grenzen, nicht zuletzt wegen des demografischen Wandels.

Auch Ökonomen schlagen Alarm. Der „Wirtschaftsweise“ Martin Werding erwartet, dass die Sozialbeiträge bald auf 45 Prozent steigen und dann weiter auf bis zu 55 Prozent. „Die Frage ist nicht ob, sondern wann“, warnt Werding. Der Kölner Ökonom Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft ergänzt: „Solange Arbeitnehmer nicht akzeptieren, dass steigende Abgaben zu einem sinkenden Nettolohn führen, belasten höhere Abgaben auch die Arbeitskosten – und damit die Beschäftigungsperspektiven.“

Der Ruf nach Eigenverantwortung – und Einschnitten

Ein zentrales Reformziel aus Sicht vieler Experten: Der Sozialstaat müsse gezielter und effizienter werden. Eigenverantwortung und Nachhaltigkeit sollten wieder mehr Gewicht bekommen. Lars Feld, Professor für Wirtschaftspolitik und Berater der Bundesregierung, fordert: „Man müsste Reformen umsetzen, die Beitragssätze dauerhaft bei 40 Prozent halten. Ansonsten drohen Haushaltszuschüsse oder Steuererhöhungen. Das ist linke Tasche, rechte Tasche.“ Für ihn sind auch Leistungskürzungen in den Sozialversicherungen kein Tabu.

BDA-Präsident Dulger setzt nun Hoffnungen in die von der Bundesregierung eingesetzte Reformkommission zum Sozialstaat. Er erwartet konkrete Vorschläge, wie sich die Systeme tragfähig umbauen lassen. Der politische Druck steigt, denn die Zeit drängt. Und das Vertrauen in die Reformfähigkeit der Politik steht ebenso auf dem Prüfstand wie die langfristige Stabilität des deutschen Sozialstaats.

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