„Christian Lindner muss Farbe bekennen“

Foto: Christof Rieken
Bundesfinanzminister Christian Lindner

Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF AG, über die divergierenden Vorstellungen im Hinblick auf die ab 2023 wieder greifenden Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts in der Eurozone und warum Christian Lindner bald zeigen muss, wieviel sein Wahlkampf-Bekenntnis zur Schuldenbremse wert ist

Christian Lindner wird schon bald Farbe bekennen müssen. Eine finanzpolitische Entscheidung von nationaler und europäischer Tragweite steht demnächst auf der Agenda: Die Reform des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts. Für das Haushaltsjahr 2022 gilt weiterhin die der Pandemie geschuldete Ausnahmegenehmigung, doch für das Haushaltsjahr 2023 sollten die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts wieder greifen. Im Rahmen des „Europäischen Semesters“ muss bis Ende April 2022 die Budgetplanung für das Folgejahr eingereicht werden. Insbesondere Frankreich und Italien drängen auf eine Flexibilisierung des Regelwerks und, ein langjähriges Anliegen Frankreichs, eine dauerhafte Übertragung größerer haushaltspolitischer Kompetenzen auf die Europäische Ebene.

Die EU-Staaten hatten sich mit dem Vertrag von Maastricht auf Konvergenzkriterien zur Begrenzung des Defizits (3% relativ zum Bruttoinlandsprodukt) und der Schulden (60% relativ zum BIP) sowie die haushaltspolitische Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten geeinigt. Aus Sicht früherer Bundesregierungen waren diese Bestimmungen genauso wie die Unabhängigkeit der EZB Voraussetzungen für die Einführung des Euro. Frankreichs Schulden liegen mittlerweile bei 114,6%, die Schulden Italiens bei 156,3% zum BIP. Emmanuel Macron und Mario Draghi haben jüngst einen französisch-italienischen Freundschaftsvertrag unterzeichnet und drängen auf eine Reform der Schuldenregeln.

Nach dem derzeit geltenden Stabilitäts- und Wachstumspakt müssten die Mitgliedstaaten übermäßige Schulden, die die 60%-Marke überschreiten, um 1/20 pro Jahr reduzieren. Italien müsste die Schulden zum BIP danach um rund 5% pro Jahr zurückführen. Politisch ist ein solches Vorhaben in den hoch verschuldeten EU-Mitgliedstaaten kaum durchsetzbar. Der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire bezeichnete die 60%-Grenze bereits als obsolet. Italien und Frankreich wollen der Schuldenlast lieber durch Investitionen und Wachstum entkommen.

Im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP steht auf Seite 133: „Wir wollen die Wirtschafts- und Währungsunion stärken und vertiefen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) hat seine Flexibilität bewiesen. Auf seiner Grundlage wollen wir Wachstum sicherstellen, die Schuldentragfähigkeit erhalten und für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen sorgen. Die Weiterentwicklung der fiskalpolitischen Regeln sollte sich an diesen Zielen orientieren, um ihre Effektivität angesichts der Herausforderungen der Zeit zu stärken. Der SWP sollte einfacher und transparenter werden, auch um seine Durchsetzung zu stärken.“

Viele Worte, um sich um eine einfache Frage zu drücken: Wird die neue Bundesregierung den Referenzwert von 60% aufgeben oder einer noch langsameren Annäherung an ihn zustimmen? Und: Ist die neue Bundesregierung bereit, weiteren Transfers bei exogenen Schocks innerhalb der EU zuzustimmen oder nicht? Für die Finanzmärkte sind die Antworten auf diese Fragen bedeutsam: Eine strenge Auslegung der Maastricht-Kriterien durch die neue Bundesregierung könnte einen Anstieg der Zinsen und der Risikoprämien der hochverschuldeten Mitgliedstaaten im Süden hervorrufen. Die Aufgabe der 60%-Grenze hingegen könnte zu weiter steigenden Schulden und einer höheren Inflation führen.

Für Finanzminister Lindner wird die Beantwortung dieser Fragen zum Problem werden, da er sich einerseits während des Wahlkampfes klar gegen eine Aufweichung der Schuldenregeln in Europa positioniert hat und andererseits Frankreich und Italien auf eine Reform der Schuldenregeln drängen. Die Herren Macron und Draghi werden sich mit einem Schweigen aus Deutschland diesmal aber nicht abspeisen lassen.

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