Das Dilemma für Anleger in Schwellenländer

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Schroders nimmt die Perspektiven der Schwellenländer unter die Lupe und fragt, ob es ach der Erholungsrallye Zeit ist für eine Neubewertung der Wachstumssegmente?

Das globale Wirtschaftswachstum erholt sich kräftig. China hat seine V-förmige Erholung bereits abgeschlossen. Die USA erholen sich weiter und sind bei der Aufwärtsbewegung ihrer V-förmigen Erholung weit vorangeschritten. Europa liegt in seiner Entwicklung nur wenige Monate hinter den USA zurück. Die Schwellenländer (mit Ausnahme Nordasiens) werden den Höhepunkt ihrer Rallye voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres erreichen.

Dies sind alles positive Entwicklungen, die jedoch von den Märkten bereits größtenteils eingepreist werden. Und sie spiegeln sich in der robusten Wertentwicklung der Aktien in diesem Jahr wider. Dies gilt für makroökonomisch besonders sensible oder zyklische Titel sowohl aus den Industrieländern als auch aus den Schwellenländern. Dies wirft die Frage auf, was in den zyklischen und substanzorientierten Bereichen des Marktes für anhaltende Stärke sorgen könnte.

Die offensichtliche Antwort ist eine anhaltende Inflation im nächsten Konjunkturzyklus. Und der Reflationshandel könnte noch weiteren Spielraum nach oben haben. Aber wie der Markt für Staatsanleihen signalisiert, ist man sich zunehmend darüber einig, dass die aktuell über dem Zielwert liegende Inflationsrate in den USA nur vorübergehender Natur sein wird. Die Rendite zehnjähriger US-Anleihen beispielsweise stieg im ersten Quartal diesen Jahres um fast 80 Basispunkte auf 1,72 % – der drittgrößte Abverkauf auf Total-Return-Basis aller Zeiten – und ist bei Redaktionsschluss wieder auf unter 1,50 % gefallen.

Wenn also die anfängliche Erholungsrallye tatsächlich abgeschlossen ist, sind die Wachstumssegmente reif für eine Neubewertung?

Welche Sektoren haben sich besonders gut entwickelt?

Die nachfolgende Abbildung zeigt die Sektorperformance des MSCI Emerging Markets in den vergangenen drei Jahren im Vergleich zum breiteren MSCI Emerging Markets Index. Der IT-Sektor stand hier klar an der Spitze. Der Sektor Grundstoffe hat sich in den vergangenen sechs Monaten deutlich erholt, während es bei den Finanzwerten danach aussieht, dass sie die Talsohle erreicht haben. Der Energiesektor hat sich hingegen unterdurchschnittlich entwickelt, und eine wesentliche Erholung ist nicht festzustellen. 

Sehen wir uns diese Entwicklungen in einem längerfristigen Kontext an. Die Abbildung unten zeigt die Sektorperformance im Vergleich zum MSCI Emerging Markets Index ab 1995. Die wichtigste Anmerkung für die folgenden Schlussfolgerungen ist, dass sich die zugrunde liegenden Aktien in allen Sektoren in diesem Zeitraum erheblich verändert haben.

Der IT-Sektor scheint jedoch seinen Höhepunkt erreicht zu haben und liegt relativ gesehen über dem Niveau, das der Sektor während der Dotcom-Blase Anfang der 2000er-Jahre erreicht hatte. Die jüngste Rallye der Grundstoffe sieht hingegen im historischen Vergleich weit weniger extrem aus. Die in den Jahren 2008 bis 2010 erreichten Höchststände standen allerdings im Kontext eines Rohstoff-Superzyklus. Um diese Werte zu erreichen, müsste man glauben, dass ein weiterer solcher Superzyklus bevorstünde.

Basiskonsumgüter, die von der globalen Finanzkrise bis 2014 eine starke Entwicklung hinlegten, haben seitdem einen Großteil dieser Outperformance wieder abgegeben. Der Industriesektor, der traditionell eine große Bandbreite an Aktien umfasst, hat sich hingegen noch nie überdurchschnittlich entwickelt.

Wie sich der Ausblick im Segment der Wachstumswerte bewerten lässt

In Schwellenländern sind Wachstumswerte über verschiedene Bereiche verteilt – insbesondere in den Sektoren Nicht-Basiskonsumgüter, IT und Kommunikationsdienstleistungen. Die entscheidende Frage für Wachstumswerte ist die Phase des Kapitalzyklus.

Da sich eine neue Wachstumschance früh in einem Zyklus eröffnet, zieht sie Kapital an. Und da ein perfektes Urteilsvermögen unmöglich ist, wird automatisch überinvestiert und es kommt zu Verschuldungen. Steigende Zinsen machen dem Zyklus dann ein Ende und schaden dem beliebtesten Wachstumssegment zusätzlich – und das mehr als alles andere. Anders gesagt: Übermäßige Investitionen in den Wachstumssektor tragen zur Rezession bei.

In den 1990er Jahren kam es zur Internetblase. Als die Blase platzte, blieben die Technologieaktien im gesamten nächsten Zyklus in ihrer Entwicklung zurück. Dieser Zyklus wurde von Rohstoffaktien in den Schwellenländern und Banken in den Industrieländern dominiert. Beide waren im letzten Zyklus wiederum größtenteils Nachzügler.

Werden sich die Titel von E-Commerce- und Internetplattform-Anbietern also in dem gerade begonnenen Zyklus unterdurchschnittlich entwickeln? Das wäre gut möglich – allerdings ging dieser Zyklus durch eine Pandemie zu Ende.

Haben Wachstumstitel in diesem Zyklus noch Spielraum nach oben?

Hier bietet sich ein Vergleich mit dem Zyklus der 2000er-Jahre an. Der Rohstoffzyklus endete tatsächlich im Jahr 2010 (schauen Sie sich die rosafarbene Linie in der obigen Abbildung an, um zu sehen, wann der wahre Abschwung einsetzte). Der Grund dafür war Folgendes: Das chinesische nominale Wachstum wurde 2008 vorübergehend unterbrochen (siehe Abbildung unten), gab aber erst 2010/11 dauerhaft nach. In diesem Sinne war die Finanzkrise, die von den Industrieländern ausging, ein externer Schock für den Kapitalzyklus der Schwellenländer, der eigentlich noch zwei Jahre länger zu laufen hatte.

Vielleicht wird sich Covid-19 ähnlich auswirken – als externer Schock, der einen Kapitalzyklus unterbricht, aber nicht beendet. In diesem Fall haben Wachstumsaktien aus Schwellenländern vielleicht noch etwas Luft nach oben.

Das Ende eines Kapitalzyklus lässt sich nie genau bestimmen. Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass dieser Zeitpunkt global synchron stattfindet. Klar ist, dass wir im gegenwärtigen Zyklus weit vorangeschritten sind und uns deutlich näher am Ende als am Anfang befinden.

Warum der Kapitalzyklus für Wachstumstitel so wichtig ist

Verschiedene Wachstumssegmente befinden sich in unterschiedlichen Phasen ihres Unternehmenskapitalzyklus. Nehmen Sie zum Beispiel den E-Commerce, eine Branche, in der das Wachstum durch die Pandemie beschleunigt wurde. Unternehmen einiger Produktbereiche verzeichnen eine nun moderatere Rendite, wenngleich diese weiterhin positiv und deutlich über ihren Kapitalkosten liegen. Andere hingegen befinden sich immer noch in der Phase rasanten Wachstums.

Bei Aktien mit rückläufigem Renditeprofil konnten die Unternehmen historisch gesehen immer noch einen wirtschaftlichen Gewinn erzielen. Dies kann den Auswirkungen von Herabstufungen entgegenwirken, da der Markt niedrigere zukünftige Renditen einpreist. Diese Unternehmen können also immer noch rentable Anlagemöglichkeiten sein und weiter wachsen. Normalerweise sinkt der Aktienkurs erst, wenn die Rendite eines Unternehmens auf das Niveau der Kapitalkosten sinkt, da die Auswirkungen der Herabstufung dann durch keinerlei Entwicklung ausgeglichen werden können. China Mobile ist ein typisches Beispiel: Von 2010 bis 2014 verbuchte das Unternehmen auch rückläufige Renditen, der Aktienkurs hat sich jedoch im gleichen Zeitraum nahezu verdreifacht. Ob diese Aktien den Index überflügeln, ist vorerst vom restlichen Markt und dem Bedürfnis nach Sicherheit abhängig.

Während diese Roadmap zwar für „alte“ Wachstumsunternehmen gilt, befinden sich „neue“ Wachstumsunternehmen, wie E-Commerce, in einer anderen Phase. Das Problem ist Amazon, das für viele Menschen ein Paradebeispiel für den Sektor darstellt. Die Vorstellung ist, dass es nur einen dominanten Akteur geben kann und dass Größe alles ist. Amazon hat in den 1990er und frühen 2000er Jahren erhebliche Verluste hinnehmen müssen, um die heutigen Renditen zu erzielen. Damit hatten auch andere E-Commerce-Unternehmen die Erlaubnis dazu, große Verluste einzufahren. Aber stimmt es zwangsläufig, dass es in jedem Markt oder in jeder Region nur einen Hauptakteur geben darf? Und wenn ja, wer wird es sein?

Und was ist mit defensiven Qualitätsaktien?

Die Merkmale einer defensiven Aktie sind stabile Renditen bei einem sehr bescheidenen Wachstum. Aber solche Aktien können häufig hohe Bewertungen aufweisen. In Schwellenländern gibt es drei Sektoren, in denen die interessantesten defensiven Titel vorzufinden sind: Basiskonsumgüter, Telekommunikation und Gesundheitswesen.

Der Telekommunikationssektor ist seinem Ruf als defensiver Sektor im jüngsten Zyklus nicht gerecht geworden. Die durchschnittlichen Renditen liegen unter den Kapitalkosten. Dies ging jedoch zulasten der Bewertungen, die jetzt günstig sind. Wenn man den Erwartungen Glauben schenken darf, werden die Renditen demnächst wieder anziehen.

Der Sektor Basiskonsumgüter generiert insgesamt hohe Renditen, die weit über den Kapitalkosten liegen. Und obwohl die Bewertungen diese Tatsache widerspiegeln, ist der reale Roll-Forward von 10 % jedes Jahr attraktiv, wenn die Renditen auf diesem Niveau bestehen bleiben. Dabei wird eine mögliche Neubewertung außer Acht gelassen. Im Gesundheitswesen sieht die Lage ähnlich aus.

Was bedeutet all dies nun?

Eines ist sicher: Wir stehen kurz vor dem Höhepunkt des Substanz-/Erholungstrades im Frühzyklus.

Das Ende und der Beginn eines neuen Konjunkturzyklus gehen oft mit einer Umschichtung des Kapitals einher. Da kann bedeuten, dass die alten Investitionen aussortiert werden, bevor Geld in die neuen Anlagen fließt.

Es ist zwar offensichtlich, in welcher Phase des Wirtschaftszyklus wir uns generell befinden – aber wo genau, ist noch unklar, und bis wir darüber Klarheit haben, wird es möglicherweise noch einige Zeit dauern. Während die Anleger*innen weiterhin die verschiedenen makroökonomischen Signale absorbieren, könnte das Positionierungsdilemma bestehen bleiben.

Autor Nicholas Field ist Stratege für Schwellenländer-Aktien und Fondsmanager bei Schroders

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