BU – das Dossier zum vertrieblichen Dauerbrenner

Die Berufsunfähigkeitsversicherung – kurz BU – gilt als unverzichtbar und ist daher ein Dauerbrenner im Vertrieb. Angesichts des zunehmend umkämpften Markts befürchten Experten, dass die Anbieter die Fehler der privaten Krankenversicherer (PKV) wiederholen.

Seit dem 21. Dezember 2012 gilt auch in der Berufsunfähigkeitsversicherung: Das Geschlecht darf bei der Tarif-Kalkulation nicht mehr berücksichtigt werden. Doch ein erstes Fazit aus der Fachwelt lässt daran Zweifel aufkommen: „Die Intention des Europäischen Gerichtshofs (EuGh) wird nicht erreicht, da das Geschlecht in der Tarifierung nach wie vor eine Rolle spielt“, sagt Michael Franke vom Analysehaus Franke & Bornberg. Dies geschieht laut Franke indirekt, indem der „Geschlechtermix“ in die jeweiligen Berufe eingeht. Die Folge: Berufe mit hohem Frauenanteil seien bei vergleichbarem Tätigkeitsprofil entsprechend teurer.

Berufsgruppen: Abschaffung oder Ausweitung?

Neben „Unisex“ sorgt das Thema „Berufsgruppen“ weiter für Wirbel: Nachdem immer mehr BU-Versicherer dazu übergegangen sind, ihre Kunden auf immer mehr Berufsgruppen zu verteilen, hat die Münchner Lebensversicherung von 1871 (LV 1871) nun eine Kehrtwende vollzogen. Statt über Berufsgruppen werden die BU-Tarife künftig nur noch über ausbildungs- und tätigkeitsspezifische Parameter sowie über Faktoren wie Rauchverhalten oder Familienstand kalkuliert.

„Die Vorgehensweise der LV 1871 ist nicht neu“, relativiert Experte Franke. Auch wenn keine Berufsgruppen mehr genannt würden, werde jeder Versicherte dennoch in eine begrenzte Anzahl von Prämienabstufungen eingestuft. Diese Entwicklung sei bei vielen Anbietern zu beobachten, so Franke. Ein Ende sei aktuell „nicht in Sicht“, da sich jeder Anbieter zumindest temporär einen Vorsprung erhoffe.

„Trend zur Prämienspreizung immer unsinniger“

„Der Trend zur Prämienspreizung wird insgesamt anhalten, wenn auch immer unsinniger“, kritisiert der Analyst, der im folgenden Exklusiv-Gastbeitrag für Cash. zu diesem Thema – sowie zu einer möglichen Gefährdung der Prämienstabiltät in der BU – ausführlich Stellung bezieht:

Michael Franke, Franke & Bornberg

Rund 20 Prozent aller Arbeitnehmer müssen vorzeitig aus ihrem Beruf aussteigen, weil Körper oder Seele nicht mehr mitmachen. Von staatlicher Seite haben sie dann über die Erwerbsminderungsrente meist wenig finanzielle Hilfe zu erwarten. Deshalb ist im Bereich der Berufsunfähigkeit private Absicherung sehr wichtig. Aber eine Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) zu bekommen, wird für viele immer schwieriger. Der Wettbewerb der Versicherer geht zwar zunehmend über den Preis, aber nur für eine immer kleiner werdende Zielgruppe. Der Preiskampf wird darüber hinaus zu Lasten der Versicherten ausgetragen.

 

Private Absicherung unverzichtbar

Seit 2001 wurden die Regelungen für die gesetzlichen Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten geändert. Betroffen von der Neuregelung waren alle Arbeitnehmer, die zu dem Zeitpunkt jünger als 40 Jahre alt waren. Anspruch auf Erwerbsminderungsrente hat seither nur, wer keine andere Tätigkeit in einem bestimmten Umfang mehr ausüben kann. Das bedeutet: Wer seinen Beruf nach einer schweren Krankheit oder einem Unfall nicht mehr ausüben kann, erhält dennoch keine Leistungen, wenn er noch irgendeine andere Arbeit ausführen kann. Der erlernte Beruf und das bisher erzielte Erwerbseinkommen (die sogenannte bisherige Lebensstellung) spielen bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente also keine Rolle. Die volle Erwerbsminderungsrente bekommt nur, wer weniger als drei Stunden am Tag arbeiten kann.

Effektiven Schutz bietet seitdem nur noch eine private Berufsunfähigkeitsversicherung. Diese zahlt dem Versicherten die vereinbarte Leistung in der Regel dann, wenn er aus gesundheitlichen Gründen seinen bisherigen Beruf zu mindestens 50 Prozent nicht mehr ausüben kann.

Preiswettbewerb ohne Not

Dennoch sind nach wie vor viel zu wenige Verbraucher gegen das Risiko der Berufsunfähigkeit ausreichend abgesichert. Und selbst bei denen, die eine private BU abgeschlossen haben, beläuft sich die durchschnittliche monatliche Rentenhöhe lediglich auf Beträge zwischen 500 und 900 Euro/Monat. Diese Summen reichen jedoch nicht aus, um den Lebensstandard im Fall einer Berufsunfähigkeit halten zu können.

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen und Fakten sollte man annehmen, dass die Berufsunfähigkeitsversicherung ein lohnendes Geschäftsfeld für Versicherer und Vermittler ist. Bei der hohen Anzahl potenzieller Kunden könnte jedes Unternehmen ein Stück vom Kuchen abbekommen, ohne dass der Wettbewerb untereinander mit fragwürdigen Mitteln betrieben werden muss. Doch die Praxis sieht oft anders aus.

Bereits seit einigen Jahren gibt es im BU-Geschäft den Trend, die Kalkulation in eine immer größere Anzahl von Berufsgruppen aufzusplitten. Noch vor wenigen Jahren war es üblich, nur zwischen kaufmännischen Berufen und Berufen mit körperlicher Tätigkeit zu unterscheiden. Mittlerweile teilen Anbieter Neukunden in bis zu 14 verschiedene Berufsgruppen ein. Ziel ist eine Top-Position im (Preis-)Kampf um die besten „Risiken“, also Verbraucher mit sehr geringem Risiko, berufsunfähig zu werden.

Für die Berufe mit niedrigeren Risiken werden in der Folge geringere Beiträge kalkuliert. In Berufen mit höherem Risiko wird der Versicherungsschutz dagegen so teuer, dass ihn sich kaum noch jemand leisten kann. Für körperlich Tätige haben sich die Preise in den letzten Jahren zum Teil vervierfacht.

Lag der Prämienaufschlag bei körperlich Tätigen vorher üblicherweise bei 100 Prozent, so ist diese Spanne inzwischen auf rund 500 Prozent angestiegen. Mit dieser immer kleinteiligeren Berufsgruppen-Differenzierung wird der Versicherungsgedanke faktisch ad absurdum geführt. Verbraucher, die den Schutz am wenigsten brauchen, erhalten ihn immer günstiger, für die anderen wird er nahezu unbezahlbar.

Für Vermittler schrumpft damit die Zielgruppe, die sich eine BU leisten kann. Zudem nähern sich die Fragen zur beruflichen Situation bedenklich der Komplexität in der Kfz-Versicherung. Der Beratungsaufwand des Maklers steigt.

Das Budget im Blick

Seit Jahren ist eine Fokussierung auf BU-Verträge mit Top-Leistungen zu beobachten. In der Folge führt das bei Kunden mit kleinem Budget oder generell bei risikoerhöhten Berufen oft zu Rentenhöhen, die kaum über Hartz-IV-Niveau liegen. Hier könnte eine Fehlberatung vermutet werden. Sinnvoller bei Budget-Engpässen ist daher, auf eine niedrigere Deckung zu Gunsten einer betragsmäßig höheren Absicherung zu gehen.

So gibt es Basis-BU Deckungen, Erwerbsunfähigkeits- oder Grundfähigkeitsversicherungen. Der gebotene Schutz kann dann zwar eher eine „Worst-case“-Absicherung sein, nutzt aber mehr als eine Mini-BU-Deckung.

Um immer feiner differenzieren zu können, geht es bei der Preisfindung längst nicht mehr nur um das allgemeine Berufsbild, sondern um die exakte Ausgestaltung der konkreten beruflichen Tätigkeit. Dabei werden genaue Angaben etwa zum prozentualen Anteil der beruflichen Reisetätigkeit, zum Anteil der körperlichen Tätigkeit oder der Zeit am Schreibtisch erfragt. Auch vergleichsweise unkonkrete Fragen zu beruflichen Risiken nehmen zu. Derart komplexe Abfragen der beruflichen Tätigkeitsausprägung erschweren das Beratungsgespräch und steigern das Risiko der vorvertraglichen Anzeigepflicht erheblich.

Dass schon geringfügige Unterschiede – beispielsweise der prozentualen Angaben zu Reisetätigkeit – zu deutlichen Preisunterschieden führen, nehmen viele Verbraucher, aber auch Vermittler zum Anlass, die Angaben zum Beruf zu „optimieren“. Oft in Unkenntnis darüber, dass sich diese Vorgehensweise im Leistungsfall rächt.

Risiko Anzeigepflichtverletzung

Falsche Antworten, etwa um einen günstigeren Preis zu ergattern, stellen eine Anzeigepflichtverletzung dar. Solche „Schnäppchen“ zahlen sich zudem langfristig nicht aus, denn die Kalkulation hält diesen geradezu provozierten Fehleinstufungen nicht stand. Die Überschüsse schwinden und die Prämien steigen auf Bruttoniveau. Kundenzufriedenheit wird auf diese Weise sicher nicht erreicht.

Viele Vermittler unterschätzen die Möglichkeiten der Versicherer, die Angaben im Leistungsfall zu überprüfen. Falschangaben können nach Paragraf 19 Versicherungsvertragsgesetz VVG sanktioniert werden. Das Risiko ist mindestens eine Nachzahlung ab Beginn des Vertrages, aber auch ein Rücktritt des Versicherers vom Vertrag ist möglich. Tatsächlich ist der Rücktritt vom Vertrag seitens des Versicherers noch immer der häufigste Grund dafür, dass Versicherte trotz vorliegender Berufsunfähigkeit keine Leistungen erhalten. Versicherte haben zu diesem Zeitpunkt faktisch keine Chance, wieder Versicherungsschutz zu erhalten. Sie verlieren ihren Versicherungsschutz genau in dem Moment, in dem er am dringendsten benötigt wird.

Prämienstabilität steht auf dem Spiel

Im Wettstreit um Kunden ist die Professionalität der Anbieter wichtiger denn je. Die Leistungen der BU-Produkte befinden sich bereits am Anschlag. Wer sich vom Wettbewerb absetzen will, dreht daher weiter am Preis – wie seit Jahren durch die Einführung neuer Berufsdifferenzierungen. Dabei werden auch Tarifierungsmerkmale herangezogen, die derzeit nicht allgemein als valide eingestuft sind. In der Folge droht eine gegenüber dem tatsächlichen Risiko zu geringe Prämieneinnahme. Eine solche „Strategie“ drückt schnell auf die Stabilität. Für die Versicherten kann das doppelt negativ sein, denn einerseits können Überschüsse einbrechen und die Beiträge auf Bruttoniveau treiben.

Dann erleben wir vermehrt das Phänomen, das bereits durch sogenannte geschlossene Tarife in der PKV bekannt geworden ist: steigende Beiträge im Bestand und günstige Beiträge im Neugeschäft. Andererseits entsteht Druck auf die Leistungsregulierung: Die vom Kapitalmarkt unabhängigen BU-Überschüsse werden für die Lebensversicherer immer wichtiger. Sinken sie, kann dies die Leistungspraxis unter Zugzwang setzen. In der Folge drohen Kunden verschleppte Bearbeitungen, Ablehnungen oder vermehrte Vergleichsversuche.

Seite zwei: Verdeckte Ausweichstrategien von Versicherern

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