Celine Nadolny: Warum ich keine Börsenprognosen lese

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Celine Nadolny

Wir überschätzen systematisch unser Wissen und unsere Fähigkeit, zu prognostizieren – und zwar massiv. Kolumne von Influencerin Celine Nadolny

Die letzten Wochen des vergangenen Jahres und vor allem die ersten Wochen des neuen Jahres waren wieder einmal von einer Vielzahl von mehr oder weniger spannenden Weissagungen der Finanzeliten gekennzeichnet. Aber auch unterjährig gehören Analysen, Linien- und Gebirgszeichnungen genauso wie Börsenprognosen mittlerweile zum Grundrepertoire des Finanzjournalismus.

Wo steht denn nun der Dax am Ende des Jahres, steht uns eine Rezession bevor, wie werden die Technologie-Werte sich entwickeln und was macht die chinesische Wirtschaft? Fragen über Fragen, deren grundsätzliches Interesse sich intuitiv erschließt, deren Antworten aber durchweg nicht wirklich über die Qualitätsschwelle einer gutgemeinten Mutmaßung hinausragen.

Nur kann man sich am Ende von „gut gemeint“ auch nicht viel kaufen und wie so häufig ist es eher selten auch „gut gemacht“. Ich persönlich lese kategorisch schon seit Jahren keine Börsenprognosen mehr, egal zu welchem Anlass. Ihren Nutzen erkenne ich höchstens als Unterhaltung, aber mehr auch nicht. Das klingt für den Moment vielleicht enorm engstirnig und nicht sonderlich plausibel aus dem Mund einer jungen Frau, die ansonsten dafür bekannt ist, alles zu lesen, was nicht bei zwei auf dem Baum ist. Wer sich aber die belastbaren Daten hinsichtlich der Aussagekraft solcher Prognosen im Zeitverlauf anschaut, erkennt recht schnell, dass sich hinter diesen Beiträgen vor allem eines versteckt: viel zu viel heiße Luft.

Dr. Burkhard Varnholt, Chief Investment Officer der angesehenen Credit Suisse, verkündete noch im Dezember 2021, die Zinsen würden noch lange auf einem niedrigen Niveau bleiben und die amerikanische Notenbank Fed würde erst im vierten Quartal 2022 ihre Leitzinsen erhöhen, und zwar um genau 0,25 Prozent. Die Realität sah dann aber etwas anders aus: Von März bis Dezember 2022 wurden die amerikanischen Leitzinsen in großen Schritten von 0,25 auf 4,50 Prozent erhöht. Auch bei seinen Prognosen für den Aktienmarkt in 2022 lag der vermeintliche Experte komplett daneben. Damit ist Varnholt aber leider kein Sonderfall, ganz im Gegenteil. Er reiht sich ein in eine sehr lange Liste renommierter und hochdotierter Finanzexperten, deren Einschätzungen an Genauigkeit teilweise nicht einmal mit Dartpfeil werfenden Schimpansen mithalten können, aber das ist eine andere, sehr lesenswerte Geschichte.

Wer sich die Arbeit macht und die Prognosen der vermeintlichen Experten sammelt, um sie später an den tatsächlich eingetretenen Ereignissen bewerten zu können, wird sich erschrecken, wie selten diese eintreffen und wie weit die Realität und die Expertenmeinung mitunter auseinanderliegen. Dabei sollte man aber nicht so naiv sein zu glauben, dass man nur den „richtigen“ Experten fragen müsse und es sichtliche Qualitätsunterschiede zwischen den Prognosen geben würde. Leider werden aus allen Reihen Prognosen für die Tonne produziert. So haben auch die „Master of the Universe“ von Goldman Sachs per Ende 2022 eine Jahresperformance des S&P 500 von zehn Prozent erwartet – und lagen damit meilenweit neben der Realität.

Ungeheure Selbstüberschätzung

Wenn es um die eigene Prognosefähigkeit geht, leiden viele Finanzexperten unter massivem Overconfidence-Bias und holen ihre Glaskugel aus dem Regal. Das wird selbstverständlich nochmals dadurch verstärkt, dass Medien und Investoren sie Jahr für Jahr, in hoffnungsvoller Erwartung auf heiße Börsentipps, um ihre Einschätzung bitten. Wir überschätzen systematisch unser Wissen und unsere Fähigkeit, zu prognostizieren – und zwar massiv. Laut dem Finanzmathematiker Nassim Taleb leiden Experten sogar noch stärker am Selbstüberschätzungseffekt als Nichtexperten. Ein Investmentbanker liegt bei einer Börsenprognose genauso falsch wie ein Nicht-Ökonom. Nur tut er es mit einer ungeheuren Selbstüberschätzung.

Das selbst Autoritäten wie die Experten von Goldman Sachs nicht die Zukunft der Börse vorhersagen können, ist nur das eine Problem. Irren ist menschlich. Gravierender wiegt die Tatsache, dass wir in der Präsenz einer Autorität das selbständige Denken um eine Stufe zurückschalten. Wir sind gegenüber Expertenmeinungen viel unvorsichtiger als gegenüber anderen Meinungen – bekannt als Authority Bias.

Analysten, die Marktentwicklungen vorhersagen, selbst wenn dahinter viel Arbeit stecken mag, kann man nicht nur nicht vertrauen, man sollte es auch nicht tun, denn das könnte böse enden. Das lässt mich unterm Strich sogar daran zweifeln, ob man solche Prognosen aus Unterhaltungsgründen drucken sollte.

Wer heute die Wirtschaftsprognosen des Jahres 2007 nachliest, ist überrascht, wie positiv damals die Aussichten für die Jahre 2008 bis 2010 ausgefallen sind. Ein Jahr später kam es zum großen Crash an den Finanzmärkten. Fragt man heute dieselben Experten nach den Gründen für den Crash, präsentieren sie uns plausible Antworten. Die Finanzkrise erscheint rückblickend als vollkommen logisch und zwingend. Und doch hat kein einziger Ökonom – und davon gibt es weltweit mehrere Millionen – ihren genauen Ablauf vorausgesagt.

Keine nennenswerte Downside

Mittel- und vor allem langfristige Prognosen von Analysten und Finanzexperten zu lesen ist nicht nur Zeitverschwendung, sondern mitunter gefährlich. Zu viele Leute lassen sich nämlich von deren „Expertenmeinung“ verleiten, treffen ihre Investitionsentscheidungen auf Grundlage der Prognosen und verspielen bei der Qualität der Vorhersagen von Goldman Sachs im vergangenen Jahr am Ende noch Haus und Hof.

Zurzeit sehen die Weissagungen der Finanzexperten vermehrt dunkle Wolken am Horizont. Es wird sich dabei insbesondere auf Konjunkturdaten gestützt, wenn Krisen und Rezessionen prophezeit werden. Wer aber meint, die aktuelle Konjunktur oder auch die unmittelbaren Konjunkturaussichten seien ein verlässlicher Indikator, um die Börsenentwicklung vorherzusagen, irrt sich. Erwin Heri, Finanzprofessor an der Universität Basel, hat in Untersuchungen festgestellt, dass die Korrelation zwischen der amerikanischen Konjunkturentwicklung (in Form des Bruttoinlandsprodukts BIP) und der Börsenentwicklung des S&P 500 in der Zeitperiode von 1980 bis 2021 gerade einmal bei 0,04 lag. Mit anderen Worten: Es gibt so gut wie keinen direkten Zusammenhang zwischen der Konjunktur- und Börsenentwicklung. Bestätigt wurden seine Untersuchungen auch zuletzt im Corona-Jahr 2020: Der S&P 500 legte eine Jahresperformance von 16,30 Prozent hin, wohingegen das amerikanische BIP im selben Jahr um 4 Prozent schrumpfte.

Dennoch werden wir auch in Zukunft weiterhin von Experten mit ihren Prognosen überhäuft, nur werden diese auch nicht verlässlicher, wenn man sie besonders häufig wiederholt. Wie schlecht es um ihre Qualität wirklich steht, versuchte auch der Berkeley-Professor Philip Tetlock herauszufinden, indem er über 80.000 Prognosen aus zehn Jahren auswertete. Sein Ergebnis: Die Prognosen trafen kaum häufiger zu, als wenn man einen Zufallsgenerator befragt hätte. Leider haben sich in diesem Zusammenhang ausgerechnet die Experten als besonders schlechte Prognostiker erwiesen, die die größte Medienaufmerksamkeit bekamen.

Vielleicht liegt das Problem darin begründet, dass die Experten keinen Preis für ihre falschen Prognosen zahlen müssen – weder monetär noch durch einen Reputationsverlust. Es gibt keine nennenswerte Downside beim Verfehlen der Prognose, aber eine sehr interessante Upside an Aufmerksamkeit, Aufträgen und Publikationsmöglichkeiten, falls die Prognosen eintreffen. Das ist kurzum das Geschäftsmodell der allseits bekannten Crash-Propheten. Es reicht nur einen einzigen Crash ansatzweise vorhergesagt zu haben und man den Rest seines Lebens ausgesorgt. Fazit: Immer mehr Vorhersagen schreiben, dann liegt man vielleicht auch mal rein zufällig richtig.

Celine Nadolny ist Finanzbloggerin (https://bookoffinance.de).

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