Herr Kannenberg, Herr Engemann, Sie arbeiten an einer gemeinsamen Vertriebsplattform. Wie müssen wir uns die neuen Tools, Services und Prozesse unter dem Dach des neuen Konzerns konkret vorstellen?
Kannenberg: Es gibt nicht die eine Plattform, sondern eine modulare Struktur aus funktionalen Bausteinen. Olaf Engemann hat einige genannt: BIPRO-Schnittstellen im Antragsprozess, die wir für Kranken- und Lebensversicherung weiterentwickeln, sowie unsere Arbeitgeberportale für bKV und bAV. Beide Häuser nutzen denselben CRM-Anbieter aus der Schweiz – ideale Basis für ein gemeinsames System, das B2B- und B2C-Prozesse abdeckt. Auch bei Vergleichs- und Maklerportalen bündeln wir unsere Auftritte. Zukünftig genügt ein zentraler Zugang. Ende 2026 folgt eine einheitliche Website mit durchgängigen Abschlussstrecken, Endkundenportal und App-Funktion. Ein Schlüsselbereich ist zudem die Risikoprüfung – intern wie am Point-of-Sale. Hier braucht es moderne Tools, effiziente Prozesse und perspektivisch auch KI. Denn gerade in der Risikoprüfung gibt es selten Überkapazitäten. Die digitale Voranfrage ist dabei ein zentrales Thema für viele Vertriebspartner – und ein echter Hebel für Effizienz. Besonders die digitale Voranfrage ist für viele Vertriebspartner ein zentrales Thema.
Stichwort künstliche Intelligenz: Sie haben angedeutet, dass hier viel Potenzial schlummert. Wo stehen Sie aktuell beim Thema KI und in welchen Bereichen setzen Sie sie bereits ein?
Engemann: KI ist bei uns angekommen, aber wir stehen noch am Anfang. Wir haben noch keinen vollständigen Überblick, wie weit die jeweils andere Seite ist – ich weiß etwa nicht im Detail, was die Stuttgarter bereits umsetzt. Erste Use Cases haben wir definiert, etwa zur Unterstützung in den Betriebsbereichen. Unsere Systemlandschaften sind historisch gewachsen, viele Infos liegen verteilt. Das führt bei Kundenanfragen oft zu Verzögerungen. Wir testen daher KI-gestützte Suchfunktionen, die per Stichwort relevante Inhalte aus allen Systemen inklusive PDFs liefern – sofort nutzbar für den Kunden. Das verbessert Service und Effizienz erheblich. Ein weiterer Einsatzbereich ist die Zielgruppenanalyse: KI hilft, Personas im Bestand zu identifizieren und gezielt anzusprechen. Und schließlich: die Risikoprüfung. Hier kann KI Vorselektionen vornehmen – mit bis zu 50 Prozent Produktivitätsgewinn. Jetzt geht es darum, die richtigen Anwendungsfälle zu priorisieren und weiterzuentwickeln.
Kannenberg: Im Vertrieb setzen wir KI derzeit gezielt zur Neukundenansprache über unsere Vermittler ein. Wir analysieren vermittlerspezifische Daten, leiten daraus Next-Best-Offer-Empfehlungen ab – inklusive Umsetzungswahrscheinlichkeiten – und spielen diese zurück in unsere Systeme. Im Kundenservice nutzen wir KI sehr klassisch: zur Transkription und Zusammenfassung von Gesprächen, um Prozesse effizienter zu gestalten. Die Stuttgarter ist im Bereich strukturierter Daten schon sehr weit. Wir können auf viele systematisch erfasste Informationen zugreifen und diese analysieren. Die große Herausforderung liegt in den unstrukturierten Daten, die wir bislang nur mit erheblichem manuellem Aufwand auswerten konnten. Und genau hier liegt das nächste große Potenzial: Mithilfe von KI können wir diese bislang „brachliegenden“ Informationen erschließen, mit unseren strukturierten Daten zusammenführen und daraus analytische Forecast-Modelle ableiten.
Was meinen Sie konkret mit unstrukturierten Daten? Wie groß ist dieser Datenbestand?
Kannenberg: Ein Beispiel: Bei einem BU-Antrag muss der Kunde viele Gesundheitsfragen beantworten. Wenn wir diese strukturiert erfassen – also digital in klar definierten Feldern – kann KI frühere, ähnliche Fälle vergleichen. So erhält der Risikoprüfer schneller fundierte Einschätzungen: Wo ist eine Annahme problemlos möglich, wo braucht es vertiefte Prüfung? Das spart Zeit und erhöht die Qualität. Schwieriger sind unstrukturierte Daten, etwa Freitexte wie „Birkenpollenallergie“ – mal ausgeschrieben, mal abgekürzt. Ohne Codierung erkennt das kein System. KI hilft, solche Infos automatisiert zu strukturieren. Wir haben große Mengen solcher Daten, teils in PDFs, teils als Freitext. Bei Systemmigrationen gehen sie oft verloren, wenn sie nicht zuvor systematisch erfasst werden. Deshalb ist es entscheidend, schon bei der Datenarchitektur mitzudenken: Welche Felder könnten in zehn Jahren wichtig sein? Nur was heute angelegt ist, kann morgen genutzt werden. KI ist hier der Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit.
ESG, Regulatorik, Digitalisierung, Nachwuchsmangel, verändertes Kundenverhalten: Welche vertrieblichen Herausforderungen sehen Sie aktuell am deutlichsten? Und wie stellen Sie sicher, dass Ihre Vertriebspartner auch künftig erfolgreich am Markt agieren können?
Engemann: Eine unserer größten Herausforderungen ist es, den persönlichen Kontakt in der Beratung zu erhalten. Auch Generation Y und Z wollen ihre Altersvorsorge, BU oder Krankenvollversicherung nicht ausschließlich digital regeln. Irgendwann braucht es jemanden, der unterstützt – vor Ort oder zentral. Gleichzeitig müssen wir attraktiv für Nachwuchs bleiben und bestehende Kompetenz fördern. Wir dürfen nicht müde werden, auf die Realität hinzuweisen: Die sozialen Sicherungssysteme stehen unter Druck, es gibt Versorgungslücken. Unser Auftrag ist es, genau das aufzuzeigen und mit starken Produkten und Services Lösungen zu bieten. Unsere Vertriebspartner nehmen diese Aufgabe ernst, und wir unterstützen sie dabei umfassend.
Kannenberg: Die größte Herausforderung ist für mich die demografische Entwicklung – und eine tief verankerte Vollkaskomentalität, die durch politische Rhetorik noch verstärkt wird. Es wird suggeriert: Der Staat regelt das schon. Eigenverantwortung tritt in den Hintergrund. Ob Gesundheit oder Altersvorsorge – persönliches Verhalten und finanzielle Vorsorge verlieren an Bedeutung. Das ist gefährlich. Berater haben es schwer, individuelle Vorsorge zu vermitteln, wenn von anderer Seite das Gegenteil behauptet wird. Ich mache mir Sorgen, welche Lasten kommende Generationen – auch meine Töchter – tragen müssen. Demografie betrifft nicht nur Sozialsysteme, sondern auch unsere Mitarbeitenden, Vermittler und Bestände. Natürlich sind ESG, Regulatorik und Digitalisierung anspruchsvolle Themen. Aber die demografische Entwicklung ist für mich eines der zentralen strategischen Themen der nächsten Jahre. Wir brauchen klare Antworten – mit passenden Produkten, gezielter Ansprache und strategischer Weitsicht.
Abschließende Frage: Wo steht die neue Unternehmensgruppe in drei Jahren und was soll man mit der SDK Stuttgarter künftig verbinden?
Engemann: Ich habe da ein klares Bild vor Augen. Auf der Titelseite eines Fachmagazins: ein Foto von Jesko und mir – mit der Headline: „Erneut exponentielles Wachstum bei der SDK Stuttgarter Gruppe“. Und auf der Innenseite: „Wieder fünf Sterne von Vertriebspartnern und Kunden für Service, Produkte und Partnerschaft“. Das wäre stark und genau unser Anspruch.
Kannenberg: Ich sehe uns in drei Jahren als den führenden Vorsorgeversicherer für unabhängige Vermittler und Vertriebe in Deutschland – ganzheitlich, kanalübergreifend und klar positioniert. Mit einer starken Plattform, exzellenten Produkten und einem gelebten Anspruch an partnerschaftliche Zusammenarbeit.













