Ihr Kleinkind möchte Ihnen stolz zeigen, was es alles schon kann. Es kann zum Beispiel schon den Teller mit der roten Beete, die es mit Papa gekocht hat, Mama zeigen, die gerade im Wohnzimmer die Wäsche faltet – wäre da nicht dieser dicke, hellbeige Wollteppich, über den Ihr Kind auch beim Spielen immer stolpert. Zack! Ein Fleck mit der Form des Afrikanischen Kontinents und scheinbar vergleichbaren Ausmaßen zieht sich über den Sofavorleger und Ihnen ist klar: Das geht nie wieder weg. Und es ist egal, wer denn nun Schuld hat: Papa, Kind, Mama, die rote Beete – niemand kann den Fleck rückgängig machen und die gesamte Familie muss jeden Tag damit leben oder den Teppich entsorgen.
Wenn Sie uns bis hier hin folgen konnten, haben Sie alles verstanden, was Sie als Laie von Per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen, kurz PFAS, verstehen sollten, auch wenn Sie bisher noch nie davon gehört haben und auch nicht wissen, dass Sie höchstwahrscheinlich selbst davon betroffen sind.
In den 1930er Jahren experimentierte der Chemiker Roy Plunkett, der für den US-amerikanischen Chemieriesen Du Pont arbeitete, mit verschiedenen Stoffen, um neuartige Kältemittel zu entwickeln – und stieß dabei zufällig auf ein weißes Pulver, welches sich als Polytetrafluorethylen herausstellte – einer der vielen Stoffe, die zu der PFAS-Gruppe gehören. Mehr als zehn Jahre und etliche Forschungsstunden später konnte PTFE 1948 kommerzialisiert werden. Sie alle kennen es aus der Bratpfanne – unter dem Name Teflon. Es war die Geburtsstunde einer ganzen Reihe von menschengemachter, in der Natur nicht vorkommender Chemikalien, die ganz wunderbare Eigenschaften hatten: hitzebeständig und wahre Wunderhelfer, wenn es darum geht Öle, Fette und Wasser abzuweisen. Sie sorgen dafür, dass die Burger-Sauce nicht durch die Verpackung trieft, sie halten die Tiefkühlpizza frisch und den Regen davon ab, durch unsere Jacken zu tropfen; sie halten den Schmutz von Teppichen fern und sorgen dafür, dass das Spiegelei aus der Pfanne flutscht.
Auf der anderen Seite sind sie sehr unterschiedlich: Einige sind bioakkumulativ, reichern sich also in Menschen und der Umwelt an. Andere sind gut wasserlöslich. Aber eines ist ihnen gemein: Nicht nur in Textilien, Outdoor‑Ausrüstung und Lebensmittelverpackungen sind sie enthalten; auch in Elektronik, Medizinprodukten, Dichtungen und Schmierstoffen bis zu Feuerlöschschäumen – es scheint, nichts geht mehr ohne PFAS. Und vor allem sind sie alle eines: extrem langlebig. Wenn sie so wollen: Unkaputtbar, weshalb sie auch unter dem Namen „Ewigkeitschemikalien“ bekannt sind. Darüber hinaus sind viele PFAS zudem sehr mobil im Wasser und können auch durch die Luft weite Strecken zurücklegen.

Alexandra Kroll (Foto: Arete Ethik Invest)
Weil diese Verbindungen so in der Natur nicht vorkommen, sondern von Menschen gemacht wurden, gibt es bisher keinen bekannten natürlichen Prozess, der sie vollständig zersetzen kann und es gibt keinen von Menschen gemachten Prozess, der sie wieder einsammeln könnte. PFAS sind sozusagen die Rote Beete und der weiße Wollteppich ist: unsere gesamte Umwelt. Denn so, wie Sie beim Rote-Beete-Fleck feststellen, dass nicht nur ein dicker roter Fleck auf dem Teppich ist, sondern sich kleine und feinste Spritzer auch auf dem Sofa, an der Wand, auf dem Fernseher und eigentlich überall finden, so gibt es auch PFAS in verschiedenen Konzentrationen: In so genannte „Hotspots“ treten sie in enormen Mengen auf, zum Beispiel dort, wo Brände mit Schaum gelöscht werden mussten. In anderen Gebieten sind sie gerade noch nachweisbar. PFAS finden sich im Regenwasser, in der Luft, in den Flüssen, im Eis der Arktis, im Boden, in Sedimenten, Pflanzen und Tieren – kurzum: überall. Und über die Nahrungskette und das Trinkwasser gelangen sie (ähnlich wie Mikroplastik) in den Menschen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass mindestens 99 Prozent aller Lebewesen PFAS in sich tragen: Sie und ich und Ihr Nachbar und eigentlich alle anderen auch.
Nur wenige dieser Stoffe können teilweise abgebaut werden, aber mit noch besorgniserregenderen Konsequenzen. Denn aus ihnen wird beim Abbau das kleinste PFAS gebildet: Trifluoressigsäure. Was nach harmlosem Küchenhelfer klingt, wurde der European Chemicals Agency (ECHA) von Deutschland und anderen EU-Staaten zur Klassifikation als „Reproduktionstoxisch, Kategorie 1B – Kann das Kind im Mutterleib schädigen. Kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen“ vorgeschlagen. Anders als im Fall der Roten Beete können wir den Teppich – a.k.a. Planet Erde – nicht einfach entsorgen und einen neuen kaufen. Wir müssen also damit leben.
Späte Einsicht – Massive Verseuchungen
Nun gut, könnten Sie sagen. Bis vor fünf Minuten wusste ich nicht, dass es PFAS gibt, anscheinend kann man damit ja sehr gut leben. Leider wissen wir das nicht. Denn mit PFAS ist es ein bisschen so wie mit dem Rauchen: Eine Zigarette wird sie wahrscheinlich nicht schwerkrank machen. Auch die zweite, dritte und 25te nicht. Aber je länger sie rauchen – oder je länger sie PFAS ausgesetzt sind – desto schädlicher wird es. Beim Rauchen können sie auf der Packung nachlesen, welchen Stoffen Sie sich aussetzen und ein Filter hält zumindest einen Teil der Giftstoffe zurück. Bei PFAS gibt es weder Filter noch Inhaltsangabe – wirklich wissen, in welchem Umfang und welchen Stoffen genau Sie ausgesetzt sind, können Sie nicht. Gerade weil man je nach Wohnort, Konsumgewohnheiten und Arbeitsplatz ganz verschiedenen Toxizitäts-Cocktails ausgesetzt ist, ist es so schwer, eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Einige PFAS sind bioakkumulativ, das heißt, sie reichern sich im Gewebe an und sind dort – weil menschengemacht – Fremdstoffe. Sie stören das Immunsystem, mindern die Wirkung von Impfungen, erhöhen Blutfette, schädigen Leber, Schilddrüse und die kindliche Entwicklung und einzelne PFAS sind wahrscheinlich krebserzeugend. Es gibt Hinweise auf Veränderungen auf Zellebene zum Beispiel im Menschen, die langfristig chronische Erkrankungen bedingen können. Das erschreckende daran ist, dass große Chemiekonzerne, die maßgeblich an der Entwicklung dieser Chemikalien beteiligt waren, bereits seit langem um die gesundheitlichen Risiken wussten, aber nicht handelten. Sie behielten ihr Wissen für sich.
Ähnlich wie bei Asbest kamen erst im Laufe vieler Jahre die Konsequenzen des PFAS-Einsatzes an die Öffentlichkeit. Die Chemiekonzerne 3M und DuPont, beide Pioniere bei der Herstellung von PFAS wie PFOA und PFOS, verfügten bereits in den 1960ern über interne Studien, die gesundheitliche Risiken zeigten. Sie entschieden sich jedoch gegen eine Veröffentlichung. Erst 1998 erhielt die US-amerikanische Umweltbehörde EPA belastende Daten über PFAS von 3M und im Jahr danach reichte der Anwalt Robert Bilott Klage gegen DuPont ein, nachdem Bauern in West Virginia durch verseuchtes Wasser erhebliche Viehverluste erlitten hatten. Im Zuge dieser Klage wurde im Jahr 2001 bekannt, dass DuPont über Jahrzehnte PFOA im Ohio River „entsorgt“ hatte, während es mit dem Teflon-Geschäft geschätzt eine Milliarde USD Profit erwirtschaftete – pro Jahr!
Erst im Jahr 2005, also beinahe 40 Jahre, nachdem die ersten internen Studien Risiken von PFAS dokumentiert hatten, legte das Unternehmen seine Studien offen und die Risiken von PFAS wurden auch international diskutiert. In Konsequenz wurde PFOS im Jahr 2009 in die Stockholm-Konvention über persistente organische Schadstoffe aufgenommen. Heute wissen wir, dass es in ganz Europa und der Welt massive Verseuchungen mit PFAS an tausenden Hotspots gibt – auch in einigen Regionen Deutschlands und der Schweiz sind Äcker, Grundwasser und Flüsse massiv belastet. Und in der Schweiz finden Blutserum‑Untersuchungen an Erwachsenen in praktisch allen Proben Hinweise auf eine PFAS-Belastung.
Teil 2 lesen Sie am Freitag auf Cash.Online.
Alexandra Kroll ist Mitglied des unabhängigen Prime-Values-Ethik-Komitees für Arete Ethik Invest. Marlene Waske ist Senior Ethics Analyst und Co-Lead Ethik-Research bei Arete Ethik Invest.