Die deutsche Lebensversicherungsbranche befindet sich erneut an einem Wendepunkt. Nach Jahren des Niedrigzinses bringt die Zinswende zwar neue Ertragschancen, doch auch erhebliche Bewertungsrisiken in den Kapitalanlagen. Zugleich verschärfen sich die demografischen Herausforderungen, während Digitalisierung, Regulierung und veränderte Kundenerwartungen den Anpassungsdruck erhöhen.
„Die Lebensversicherung steht (wieder einmal) an einem Wendepunkt“, analysiert Lars Heermann, Bereichsleiter der Assekurata Rating-Agentur in einem aktuellen Beitrag. Zinsumfeld, Strukturwandel und technologische Dynamik fordern die Branche ebenso wie der zunehmende Wettbewerb durch Banken, Fondsplattformen und digitale Anbieter.
Zinswende stärkt Erträge – aber belastet Bilanzen
Nach mehr als einem Jahrzehnt niedriger Zinsen brachte die Wende ab 2022 neue Impulse für die Kapitalanlage. Die Auflösung der Zinszusatzreserve (ZZR) verschafft den Versicherern zusätzliche Freiräume: Ende 2024 lag der Bestand bei 84 Milliarden Euro, deutlich unter dem Höchststand von 96 Milliarden Euro im Jahr 2021. Die Rückflüsse erhöhen die Rohüberschüsse und schaffen Mittel für Überschussbeteiligungen, Investitionen oder den Abbau stiller Lasten.
Letztere stellen jedoch weiterhin ein Problem dar. Durch die konservative Anlagepolitik vieler Versicherer haben steigende Zinsen verdeckte Buchverluste in ähnlicher Größenordnung wie die ZZR verursacht – rund 80 Milliarden Euro. Damit bleibt der Spielraum in der Kapitalanlage begrenzt. Zwar rechnet Assekurata mit einer weiteren Ertragsverbesserung, doch hängt die Entwicklung stark von der Portfoliostruktur der einzelnen Anbieter ab.
Konsolidierung und Effizienzdruck prägen den Markt
Die Wachstumszahlen der Branche zeichnen ein zwiespältiges Bild. 2024 stiegen die gebuchten Bruttoprämien um rund drei Prozent, getragen vor allem von Einmalbeiträgen. Laufende Prämien blieben dagegen stabil. Gleichzeitig schreitet die Konsolidierung weiter voran: Seit der Jahrtausendwende ist die Zahl der Lebensversicherer um etwa ein Drittel gesunken. Fusionen und Zusammenschlüsse sind mittlerweile fester Bestandteil des Marktes.
Effizienz und Skaleneffekte gewinnen an Bedeutung. Moderne IT-Systeme, datengetriebene Geschäftsmodelle und der Einsatz Künstlicher Intelligenz werden zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Nur wer Prozesse digitalisiert und flexibel auf Marktveränderungen reagiert, kann seine Position langfristig behaupten, so Heermann weiter.
Demografie als Risiko und Chance
Hinzu komme der demografische Wandel, der die Branche auf verschiedenen Ebenen treffe. Viele Mitarbeiter und Vermittler stehen kurz vor dem Ruhestand. Damit drohen Know-how, Kundenbeziehungen und Vertriebskraft verloren zu gehen. Gleichzeitig erschwert der Fachkräftemangel die Gewinnung junger Talente, die andere Branchen attraktiver finden. Fehlen Nachwuchskräfte im Innen- und Außendienst, leidet die Fähigkeit, Kunden zeitgemäß zu betreuen und neue Geschäftsmodelle umzusetzen.
Auf der Kundenseite sieht der Experte dagegen neue Potenziale. So wachsen die Zielgruppen der „Best Ager“ (55–65 Jahre) und „Silver Ager“ (65+) kontinuierlich. Zugleich wird die gesetzliche Rente für die meisten Menschen nicht reichen, um den Lebensstandard im Alter zu halten. Lebensversicherer können sich gerade in diesem Umfeld mit flexiblen, verständlichen und innovativen Produkten profilieren, die passgenau auf die Bedürfnisse ihrer Kunden zugeschnitten sind. Sinnvoll sind Lösungen, die Investieren, Entsparen und Risikoabsicherung intelligent verbinden und damit eine ganzheitliche Ruhestandsplanung unterstützen. Hinzu kommt ein erhebliches Wiederanlagepotenzial: Viele ablaufende Verträge bieten Chancen, die bislang nur sehr unzureichend ausgeschöpft werden.
Ein erster Schritt ist die fondsgebundene Gestaltung der Auszahlungsphase. Während kapitalmarktnahe Policen in der Ansparphase längst etabliert sind, dominieren bei Rentenzahlungen noch klassische Verrentungsmodelle. Modernere Konzepte erlauben es hingegen, auch im Ruhestand vom Aktienmarkt zu profitieren – etwa durch fondsgebundene Renten mit Absicherungsmechanismen gegen Langlebigkeits- und Marktrisiken. Damit lassen sich flexible Entnahmepläne mit lebenslanger Absicherung kombinieren. Die große Generation der Babyboomer, die bald nach und nach in den Ruhestand geht, dürfte für solche Konzepte sehr empfänglich sein, zeigt sich Heermann überzeugt.
Politische und regulatorische Unsicherheiten
Unter der neuen Bundesregierung ist die Ausrichtung der Altersvorsorgepolitik noch offen. Der Koalitionsvertrag sieht zwar Reformen und Vereinfachungen vor, doch konkrete Maßnahmen lassen auf sich warten. Die Branche fordert zügige politische Entscheidungen, um die wachsende Versorgungslücke zu schließen.
Parallel dazu bleibt die Regulatorik ein zentraler Faktor. Die BaFin verlangt nach der Neuberechnung der Übergangsmaßnahmen tragfähige Solvenzquoten auch ohne Stützeffekte. Neue Vorgaben wie der Digital Operational Resilience Act (DORA) und der EU-AI-Act stellen hohe Anforderungen an digitale Widerstandsfähigkeit und KI-Einsatz. Ab 2027 tritt zudem die Insurance Recovery and Resolution Directive (IRRD) in Kraft, die strengere Krisenpläne verlangt. Zunehmend rücke die Aufsicht auch qualitative Fragen in den Fokus: Kundennutzen, Kostenstrukturen und Umsetzungsqualität stünden stärker im Vordergrund als reine Compliance-Aspekte, so Heermann.
Vertrauen und Transparenz als Erfolgsfaktoren
In einem Umfeld wirtschaftlicher Unsicherheit und wachsender Komplexität werden Orientierung und Vertrauen zu zentralen Werten. Unabhängige Analysen und Ratings helfen dabei, die Zukunfts- und Servicefähigkeit der Anbieter sichtbar zu machen. Für Heermann steht fest: „Transparenz ist in Zeiten des Wandels ein entscheidender Erfolgsfaktor. Sie stärkt das Vertrauen von Kunden, Partnern und Investoren – und wird zur Grundlage für nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit in der Lebensversicherung.“















