Negative Realzinsen: Die neue Realität?

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Olivier de Berranger, CIO bei La Financière de l’Echiquier (LFDE), über die Zinssituation in den USA und der Eurozone.

Das Inflationsfieber in den USA und der Eurozone ließ die realen Zinssätze – sprich die inflationsbereinigten Nominalzinssätze – automatisch in den negativen Bereich fallen. Um in der Geschichte vergleichbare Fälle zu finden, muss man bis in die Zeit der Weltkriege oder der Hyperinflation der 1970er-Jahre zurückgehen. Allerdings gab es damals ganz andere Katalysatoren: Versorgungsengpässe durch die Kriege einerseits und Ölpreisschocks andererseits. Die derzeitige Lage mag einem Ökonomen in vielerlei Hinsicht irreal erscheinen.

Mittlerweile rentieren die zehnjährige US-Anleihe und die zehnjährige Bundesanleihe (der europäische Referenzwert) bei –3 %, wenn man sie um die Kerninflation korrigiert, d. h. ohne Lebensmittel- und Energiepreise. Dieser Prozentwert ist sogar noch viel geringer, wenn man die Gesamtinflation berücksichtigt.

Olivier de Beranger, LFDE (Foto: LFDE)

„Irreale“ Zinsen – und die Folgen für die Wirtschaftsakteure

Für die vorsichtigsten Sparer kommt dies – um es mit den Worten von John M. Keynes zu sagen – einer langsamen Sterbehilfe gleich, da die Inflation die Verzinsung der als risikolos geltenden Anlagen auffrisst. Demnach würden die Ersparnisse eines Anlegers, der den USA oder Deutschland für zehn Jahre Geld leiht, mehr als ein Viertel ihrer Kaufkraft verlieren, wenn die Lage bis zur Fälligkeit unverändert bliebe. Sparer, die zu höheren Risiken bereit sind, werden automatisch in besser verzinste und somit riskantere Anlagen gedrängt – mit dem Risiko, zur Bildung von Blasen beizutragen. Die derzeitige große Beliebtheit von Krypto-Investments ist möglicherweise eine Folge davon.

Für Bürger und Staaten haben diese deutlich negativen Realzinsen den Vorzug, dass sie die Staatsverschuldung tragbar und in realen Zahlen sogar einträglich machen: Die inflationsbedingt gestiegenen Einnahmen sind höher als die Kreditkosten. Es scheint völlig irreal, doch der Staat verdient Geld, indem er sich verschuldet!

Für die Unternehmen scheinen bestimmte Investitionsvorhaben, die bei höheren Realzinsen eine Belastung gewesen wären, nun angesichts der niedrigen Finanzierungskosten rentabel. Durch diese Aussicht auf mögliche Erträge irgendwann in ferner Zukunft lassen sich sogar hohe Bewertungen von tief verschuldeten Unternehmen rechtfertigen. Also ein echter Anreiz zum Schulden machen und Investieren.

Den Zentralbanken mag es wiederum irreal erscheinen, dass sie sowohl für die Kontrolle der Inflation zuständig sind als auch als Hauptgläubiger der Staaten fungieren. Zur aktiven Bekämpfung der Inflation als ausdrückliche Aufgabe im Rahmen ihres Mandats müssten sie ihre Wertpapierkäufe rasch beenden und die Leitzinsen anheben. Dies würde jedoch die Staaten, deren Schulden sie zu einem großen Teil halten, automatisch destabilisieren. Durch diese Schwächung ihrer eigenen Bilanz würden die Zentralbanken letztendlich ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Es scheint nunmehr deutlich, dass die Fed und die EZB stillschweigend das Ziel verfolgen, die Realzinsen mindestens bei null und idealerweise im negativen Bereich zu halten. Dies erklärt, warum sie seit Monaten zögern, die geldpolitische Straffung mit Entschlossenheit einzuleiten. Auf kurze Sicht erscheint dieser Drahtseilakt realistisch. Sollte die Inflation jedoch aus dem Ruder laufen, wäre er auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt. So irreal es auch erscheinen mag: Die negativen Realzinsen könnten zur neuen Realität werden.

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