Corona-Booster: Vergisst Karl Lauterbach fast 10 Millionen Menschen?

Karl Lauterbach im Bundestag
Juergen Nowak / Shutterstock.com
Übergewichtige kommen in den Reden von Gesundheitsminister Karl Lauterbach, hier im Bundestag, meistens nicht vor.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) startet eine neue Corona-Impfkampagne. Doch eine besonders gefährdete Bevölkerungsgruppe fällt nicht nur bei der Kommunikation des Ministeriums meistens unter den Tisch: Die – gar nicht sooo – Dicken.

Die Zahl der neuen Corona-Infektionen ist in den letzten Tagen erneut in die Höhe geschossen. „Corona ist zurück, die Herbst- und Winterwelle hat begonnen“, sagte Lauterbach bei seiner Pressekonferenz am Freitag, auf der er unter anderem eine neue Impfkampagne vorstellte.

Lauterbach will vor allem die über 60-jährigen dazu bewegen, sich impfen zu lassen und auch den zweiten Booster abzuholen, also die insgesamt vierte Corona-Impfung (inklusive etwaiger vorheriger Infektionen). Auch die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt die zweite Auffrischungsimpfung generell Personen ab 60 Jahren, daneben unter anderem aber auch jüngeren Menschen mit bestimmten Grunderkrankungen. In Bezug auf diese „vulnerablen Gruppen“ wird sowohl von offizieller Seite als auch in Medien regelmäßig zum Beispiel auf Krebserkrankungen oder immum-suprimierte Menschen verwiesen, so auch am Freitag.

Doch die Stiko-Liste der „Personen im Alter ab 18 Jahren mit Grunderkrankungen, die ein erhöhtes Risiko für schwere COVID-19-Verläufe haben“ und denen sie somit einen zweiten Booster empfiehlt, ist deutlich länger. Dazu zählen unter anderem verschiedene chronische Leiden, generell psychiatrische Erkrankungen und ein Punkt, den viele vielleicht gar nicht als „Krankheit“ einstufen werden: Übergewicht – und zwar schon ab einem Body Mass Index (BMI) von 30.

Fast jeder fünfte Deutsche betroffen

Zur Corona-Risikogruppe dürften damit nicht wenige gehören, die sicherlich spürbar zu viel auf den Rippen haben, sich aber keineswegs als außergewöhnlich fettleibig empfinden und auch von anderen nicht so gesehen werden.

Der BMI setzt das Gewicht in Relation zur Körpergröße und ist eine allgemein anerkannte Messlatte für die Frage, ob jemand unter-, normal- oder übergewichtig ist. Die Formel ist einfach: Gewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Metern. Das ist leicht mit dem Taschenrechner oder Smartphone zu berechnen, es finden sich aber auch jede Menge „BMI-Rechner“ im Internet, beispielsweise bei vielen Krankenversicherungen.

Einen BMI über 30 hat zum Beispiel wer
• 1,60m groß ist und mehr als 77 Kilo wiegt
• 1,70m groß ist und mehr als 87 Kilo wiegt
• 1,80m groß ist und mehr als 97 Kilo wiegt
• 1,90m groß ist und mehr als 108 Kilo wiegt

Das ist jeweils ohne Frage deutlich zu viel, betrifft aber nicht wenige Deutsche: Nach einer Statistik des Robert Koch Instituts (RKI) aus dem Jahr 2017 sind es 18,1 Prozent der Bevölkerung, also fast jeder fünfte. Die Zahl ist für Männer und Frauen identisch.

Riesige Bevölkerungsgruppe fällt unter den Tisch

Nun leben in Deutschland laut Statista rund 54 Millionen Menschen zwischen sechs und 59 Jahren, für die grundsätzlich Corona-Impfstoffe zugelassen sind. 18,1 Prozent davon sind etwa 9,8 Millionen. Obwohl sie noch nicht 60+ sind, zählen sie also zur Corona-Risikogruppe mit Stiko-Empfehlung für den zweiten Booster und werden es zum großen Teil gar nicht wissen – vor allem viele derjenigen nicht, die gar nicht sooo dick sind.

Sicherlich gehören einige davon schon aus anderen Gründen zur Risikogruppe oder haben sich selbst informiert, auch wenn das nicht einfach ist. Doch das ändert nichts daran, dass eine riesige Bevölkerungsgruppe mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf in der Kommunikation und aktiven Ansprache des Ministeriums und des RKI fast komplett unter den Tisch fällt. So wird weder auf der Website des Gesundheitsministeriums noch bei den FAQ des RKI und auf der offiziellen Website zusammengegencorona.de beim zweiten Booster auf das Thema Übergewicht/BMI eingegangen.

Lediglich die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung weist auf ihrer Website infektionsschutz.de immerhin auf „starkes Übergewicht“ als Risikofaktor hin, präzisiert dies allerdings nicht mit dem BMI. In einem „Merkblatt“ für Risikogruppen auf der gleichen Website ist bei dem betreffenden Punkt hingegen nur von „Diabetes mellitus (‚Zuckerkrankheit‘) und andere Stoffwechselerkrankungen“ die Rede. Dass dazu auch Übergewicht zählt, muss sich der Leser dann selbst denken. In einem dort ebenfalls angebotenen interaktiven „Corona-Impfcheck“ heißt es dann wieder: „Stoffwechselerkrankungen, wie starkes Übergewicht (…)“, wiederum allerdings ohne BMI.

Stiko-Empfehlung selbst nicht ganz widerspruchsfrei

Das Durcheinander dürfte auch daraus resultieren, dass die Stiko-Empfehlung selbst nicht ganz widerspruchsfrei ist. In ihrem „epidemiologischen Bulletin“ mit der 20-seitigen COVID-19-Impfempfehlung, auf die allerorten verwiesen wird, findet sich Übergewicht („Stoffwechselerkrankungen, inkl. Adipositas mit Body Mass Index (BMI) > 30 kg/m2 …“) lediglich in einer Tabelle der Risikofaktoren.

Im Fließtext zum zweiten Booster erwähnt die Stiko unter den Risikofaktoren hingegen lediglich „z.B.“ Zuckerkrankheit und „ …andere Stoffwechselerkrankungen“. Diese allgemeine Formulierung wurde von vielen Info-Seiten übernommen, darunter das Gesundheitsministerium selbst, bei dem sich offenbar wiederum auch viele Medien für ihre Artikel und „Ratgeber“-Seiten bedient haben.

Warum die Stiko in dem Text nicht Bezug auf ihre eigene Tabelle nimmt und stattdessen nebulös auf eine „Analogie zur Indikationsimpfung gegen Influenza“ verweist, bleibt offen. Auch stellt sich die Frage, warum es in dem 20-seitigen Bulletin nicht möglich ist, eine vollständige Liste der relevanten Grunderkrankungen aufzuführen statt nur „z.B.“. Und warum es für Übergewichtige und zum Beispiel Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen – wenn sie schon nicht in die aktive Kommunikation einbezogen werden – überhaupt notwendig ist, sich durch die unendlichen wissenschaftlichen Ausführungen der Stiko wühlen zu müssen, statt wenigstens auf den Seiten des Ministeriums und des RKI verständlich und vollständig informiert zu werden.

Jeder siebte der 18- bis 59-jährigen noch gar nicht geimpft

Ganz oben in der Stiko-Tabelle werden – wie sonst auch regelmäßig – Personen im Alter ab 60 Jahren genannt. Die Kommission weist jedoch darauf hin: „Gruppen und Vorerkrankungen sind nicht nach Relevanz geordnet.“ Das heißt: Übergewichtige mit BMI größer 30 haben unabhängig vom Alter grundsätzlich die gleiche Risiko-Einstufung wie (gesunde) über 60-jährige. Das ist nicht neu. Aber ob es alle wissen?

Das betrifft nicht nur den zweiten Booster, sondern auch die generelle Impf-Empfehlung der Stiko für alle Erwachsenen (und die meisten Kinder). Laut RKI-Statistik sind immerhin 15,3 Prozent der 18- bis 59-jährigen noch gar nicht geimpft. Das sind rund 6,9 Millionen oder mehr als jeder siebte.

Wie viele davon übergewichtig sind, wissen wir nicht. Und welchem Teil dieser Menschen wiederum bewusst ist, dass sie zur Risikogruppe zählen, obwohl sie noch nicht 60 sind, ebenfalls nicht. Bei einer BMI-30-Quote von 18 Prozent wären es aber über 1,2 Millionen krankhaft Übergewichtige unter 60 Jahren, die nicht oder allenfalls durch überstandene (und möglicherweise überraschend schwer verlaufene) Infektionen geschützt sind – sofern sie nicht unerwartet und mit einer für ihre Altersklasse überdurchschnittlich hohen Wahrscheinlichkeit daran gestorben sind.

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