Mangelwirtschaft

Foto: Shutterstock

Das Jahr 2021 wird als das Jahr der Knappheiten in Erinnerung bleiben. So gut wie kein Wirtschaftsbereich blieb verschont. Es fehlte es selbst an den simpelsten Alltagsgütern, wie Frachtcontainern, Holzpaletten, Pappkartons, Erdgas und Düngemitteln. In der Folge kam es bei zahlreichen dieser Güter zu einer wahren Preisexplosion. Eine rasche Trendwende zeichnet sich in Sachen Mangel nicht ab. Ein Kommentar von Jörg Angelé, Senior Economist der Bantleon Bank AG

Ein Rückgang der Preise auf das Vorkrisenniveau ist ohnehin fraglich, da ein Teil der Angebotsdefizite struktureller Natur ist. Wahrscheinlicher ist, dass die Unternehmen vielfach mit deutlich höheren Kosten werden leben müssen. Einen Teil dieser Kosten werden sie an die Konsumenten weitergeben. Der unterliegende Preisdruck sollte schon allein aus diesem Grund in den kommenden Jahren zunehmen. Wir sehen daher eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die EZB ihre Inflationsprognose für die Eurozone für die Jahre 2023 und 2024 von je 1,8% weiter anheben muss. Selbst für den prognostizierten Anstieg von 3,2% im Jahr 2022 überwiegen die Aufwärtsrisiken.

Das Jahr 2021 wird als das Jahr der Knappheiten in Erinnerung bleiben. So gut wie kein Wirtschaftsbereich blieb verschont. Besonders im Gedächtnis haften bleiben wird der Mangel an Steuerchips in der Automobilindustrie: Hunderttausende Autos konnten allein in Deutschland nicht produziert werden, die Unternehmen mussten Zehntausende Mitarbeiter trotz voller Auftragsbücher über Monate in Kurzarbeit schicken. Aber nicht nur Hightech-Komponenten waren knapp. Plötzlich fehlte es selbst an den simpelsten Alltagsgütern, wie Frachtcontainern, Holzpaletten, Pappkartons, Erdgas und Düngemitteln. In der Folge kam es bei zahlreichen dieser Güter zu einer wahren Preisexplosion. 

In der vorliegenden Analyse werden Beispiele für Materialknappheiten beleuchtet. Dabei versuchen wir jeweils abzuschätzen, ob es bereits Signale für eine Entspannung gibt bzw. ab wann eine solche zu erwarten ist und was sich daraus mit Blick auf die Entwicklung der Erzeuger- und Verbraucherpreise ableiten lässt.

Die Energiepreise spielen verrückt

Den Anfang macht der Rohölpreis. Dieser hat sich in EUR gerechnet seit Ende 2020 um knapp 60% erhöht (vgl. Abbildung 1). Ausschlaggebend war zum einen die rasche Erholung der globalen Konjunktur nach dem coronabedingten Einbruch im Frühjahr 2020, die zu einer kräftigen Ausweitung der Nachfrage nach dem schwarzen Gold geführt hat. Zum anderen wuchs das Angebot nur unterdurchschnittlich. Hierfür gibt es im Wesentlichen drei Gründe: Erstens bleiben dem Iran infolge der US-Sanktionen im Zusammenhang mit dem iranischen Atomprogramm die westlichen Absatzmärkte verschlossen. Zweitens hält sich die OPEC+ sehr diszipliniert an die eigenen Förderbeschränkungen. Drittens haben die nordamerikanischen Schieferölproduzenten bisher kaum mit einer höheren Förderung auf den gestiegenen Ölpreis reagiert (vgl. Abbildung 2). 

Abb1: Die Nachfrage nach Rohöl dürfte auch 2022 stärker steigen als das Angebot

Quellen: Macrobond, BANTLEON

Derzeit ist nicht absehbar, dass sich bei den das Angebot begrenzenden Faktoren substanziell etwas ändert. Gleichzeitig dürfte die Nachfrage nach Öl vor dem Hintergrund des erwarteten Abebbens der Pandemie sowie der damit einhergehenden Konjunkturbelebung in den kommenden Quartalen weiter anziehen. So liegt beispielsweise der weltweite Flugverkehr noch etwa 20% unter dem Vorkrisenniveau. 

Abb2: Das Angebot an US-Rohöl nimmt trotz höherem Preis nur unterdurchschnittlich zu

Quellen: Macrobond, BANTLEON

Der Ölpreis sollte daher tendenziell steigen. Eine Entlastung der Verbraucher an der Zapfsäule ist mithin nicht in Sicht; zumal im Rahmen der globalen Klimaschutzbemühungen mit zusätzlichen Belastungen (CO2-Steuer etc.) zu rechnen ist.

Abb. 3: Gasspeicher in Europa zurzeit nur stark unterdurchschnittlich gefüllt

Quellen: AGSI, BANTLEON

Neben Rohöl ist zurzeit aber auch Erdgas heiss begehrt. Infolge einer ungewöhnlich geringen Ausbeute bei Wind- und Sonnenenergie im zurückliegenden Jahr wurden vielerorts Gaskraftwerke hochgefahren, um die Lücke bei der Stromerzeugung zu schliessen. Gleichzeitig wurde die Gasförderung in EU-Ländern wie den Niederlanden und Dänemark gedrosselt. Der höhere Bedarf an Gas wurde zudem nicht bzw. nur teilweise durch höhere Gasimporte kompensiert. Aus diesem Grund sind die Gasspeicher in Europa aktuell deutlich weniger gut gefüllt als zu dieser Jahreszeit üblich (vgl. Abbildung 3). 

Abb. 4: Die Gas- und Strompreise gingen 2021 durch die Decke

Quellen: Macrobond, nationale Strombörsen, BANTLEON; * gewichteter Durchschnitt DE, FR, IT, ES und PT

Da die Nachfrage nach Erdgas auch in Asien und den USA sprunghaft zugenommen hat, das globale Angebot aktuell jedoch begrenzt ist, bleibt als Ventil nur ein kräftiger Preisanstieg: Seit Ende 2020 hat sich der Börsenpreis in Europa für eine Megawattstunde von 16,2 EUR auf 117,8 EUR mehr als versiebenfacht (vergleich Abbildung 4). Wann die Preise für Erdgas wieder sinken, lässt sich derzeit nicht abschätzen. Das hängt unter anderem davon ab, wie kalt der anstehende Winter auf der Nordhalbkugel ausfällt. Angesichts der geringen Füllstände der Gasspeicher halten wir einen nennenswerten Preisrückgang nicht vor dem Frühjahr 2022 für wahrscheinlich. Sollte die Lage in der Ostukraine eskalieren, ist dagegen von einem weiteren Preisanstieg auszugehen.

Abb. 5: Der Preis für CO2-Zertifikate ist eine Einbahnstrasse

Quellen: Fraunhofer ISE, BANTLEON

Weil in der EU rund 20% des produzierten Stroms aus Gaskraftwerken stammen, hat sich diese Art der Stromerzeugung ebenfalls erheblich verteuert. Das ist auch der Hauptgrund für den in die Höhe geschnellten Börsenstrompreis, denn dieser orientiert sich infolge einer EU-Regelung immer an der teuersten Art der Stromproduktion. Seit Dezember 2020 ist der Preis in der Eurozone um 500% gestiegen (vgl. Abbildung 4).

Ebenfalls zu den hohen Strompreisen trägt die massive Verteuerung der CO2-Zertifikate bei, welche die Betreiber von Gas- und Kohlekraftwerken erwerben müssen. Die Zertifikate kosten aktuell beispielsweise in Deutschland knapp 80 EUR, und damit fast dreimal so viel wie vor einem Jahr (vgl. Abbildung 5). Ob und wann Strom an der Börse wieder günstiger wird, hängt im Wesentlichen von der Entwicklung der Preise für Erdgas ab. Eine Rückkehr des Strompreises auf das Vorkrisenniveau ist allerdings fraglich, da ein nachhaltiger Rückgang der Preise für CO2-Zertifikate unwahrscheinlich ist – schon allein deshalb, weil deren Zahl im Zuge der Klimaschutzbemühungen der EU von Jahr zu Jahr verringert werden soll.

Der rekordhohe Gaspreis führt auch an unvermuteter Stelle zu Materialengpässen

Der hohe Gaspreis ist aber nicht nur für den in die Höhe geschnellten Strompreis verantwortlich, er führt auch zu Problemen an ganz anderer Stelle. Weil beispielsweise zur Herstellung von Ammoniak enorme Mengen Erdgases benötigt werden, haben viele Produzenten ihren Ausstoss gedrosselt oder sogar eingestellt. Ammoniak wiederum ist das Ausgangsprodukt zur Herstellung von Düngemitteln und Harnstoff. Letzterer ist essenzieller Bestandteil von AdBlue, einem Zusatz, den Fahrzeuge mit Dieselmotor zur Abgasbehandlung benötigen. 

Abb. 6: Der hohe Gaspreis birgt auch Gefahren für Landwirtschaft und Lkw-Warenverkehr

Quellen: Weltbank, BANTLEON; * Diammoniumphosphat

Die Preise sowohl für Düngemittel als auch für Harnstoff haben sich infolge des geringeren Angebots drastisch erhöht (vgl. Abbildung 6). Viele Landwirte weltweit zögern daher, Dünger zu kaufen. Das wiederum könnte zu erheblichen Ernteausfällen im nächsten Jahr führen und die ohnehin gestiegenen Nahrungsmittelpreise weiter nach oben treiben. Ein Mangel an Harnstoff bzw. AdBlue könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass Lkws nicht mehr fahren können. Plötzlich sind Frachtkapazitäten Mangelware

Abgesehen von den Energiemärkten hat die Coronavirus-Pandemie auch die globalen Lieferketten durcheinandergewirbelt. Unter anderem infolge des sprunghaften Anstiegs der Nachfrage nach Medizinprodukten und Elektronikartikeln wurden im Lauf des Jahres 2020 die Frachtkapazitäten per Schiff aus Asien knapp. Da die Reedereien begannen, Kapazitäten in Form von Schiffen und Containern auf die Routen von Asien nach Europa bzw. die USA zu verlagern, stiegen auch die Preise für andere Schifffahrtsrouten, wie beispielsweise die von den USA nach Europa (vgl. Abbildung 7).

Abb. 7: Frachtkapazitäten sind ein rares Gut

Quellen: Freightos, Drewry, BANTLEON

Die Frachtkosten erreichten im Sommer 2021 ein Rekordhoch, in dessen Nähe sie sich noch immer befinden. Eine Entspannung bei den Frachtkosten ist erst zu erwarten, wenn die Pandemie nachhaltig abebbt und sich die Güterströme wieder normalisieren. Das dürfte frühestens im Jahresverlauf 2022 der Fall sein. 

Abb. 8: Frachtschiffe stehen immer öfter im Stau

Quellen: IfW Kiel, BANTLEON

Unternehmen stehen aber nicht nur vor dem Problem massiv gestiegener Kosten für den Transport ihrer Waren per Schiff. Auch die Lieferzeiten haben sich erheblich verlängert. Da man in vielen Häfen nicht mehr damit hinterherkommt, die Fracht von den Containerriesen zu löschen, müssen immer mehr Schiffe vor den Häfen auf ihre Entladung bzw. Beladung warten. Der Anteil der weltweit auf wartenden Containerschiffen feststeckenden Waren hat sich seit Beginn der Pandemie verdoppelt (vgl. Abbildung 8).  Dank Homeoffice und Lockdowns sprengt die Nachfrage nach Mikrochips das Angebot

Die stark gestiegene Nachfrage nach Elektronikartikeln hatte noch weitergehende Auswirkungen: Computerchips wurden knapp. Die wenigen Hersteller von Mikroprozessoren, die den Weltmarkt beherrschen waren nicht in der Lage, die sprunghaft gestiegene Nachfrage zu bedienen, obwohl die Produktion im Rahmen der Möglichkeiten maximal ausgeweitet wurde. Für einen noch grösseren Ausstoss an Halbleitern wären neue Fabriken nötig, deren Fertigstellung allerdings Jahre dauert. 

Zuletzt betrug die Lieferzeit für Computerchips gut 22 Wochen. Vor Ausbruch der Pandemie waren es durchschnittlich knapp 13 Wochen (vgl. Abbildung 9). Mit einer Verkürzung der Lieferzeiten rechnen wir im Lauf des neuen Jahres. Wann genau und wie schnell dies geschieht, wird erheblich vom weiteren Verlauf der Pandemie abhängen.
 

Abb. 9: Mikrochips bleiben heiß begehrt

Quellen: Susquehanna Financial Group, BANTLEON

Das im Zuge der Pandemie veränderte Einkaufsverhalten der Konsumenten – insbesondere die massive Zunahme des Onlinehandels – hat ebenfalls zur Verknappung einer ganzen Reihe von Alltagsgütern geführt. Der Preis für Holzpaletten beispielsweise hatte sich in Deutschland zwischenzeitlich fast verdreifacht und lag zuletzt noch immer 120% über dem Vorkrisenwert. Wegen des enormen Bedarfs an Kartons haben sich die deutschen Grosshandelspreise für Papier- und Pappreststoffe zur Herstellung von Pappe seit Dezember 2020 verdoppelt (vgl. Abbildung 10). 

Spürbar rückläufige Preise erwarten wir in beiden Fällen – Holzpaletten und Altpapier – erst mit einer Normalisierung des Einkaufsverhaltens der Verbraucher. Auch das hängt entscheidend vom weiteren Pandemieverlauf ab. 

Abb. 10: Selbst Holzpaletten und Altpapier sind plötzlich knapp

Quellen: Destatis, HPE, BANTLEON

Es verwundert also nicht, dass das verarbeitende Gewerbe weltweit unter Engpässen und Materialmangel leidet. In Deutschland beklagten im November 74,4 % der vom ifo-Institut befragten Unternehmen eine Knappheit an Rohstoffen und Vorprodukten (vgl. Abbildung 11).

Abb. 11: In der deutschen Industrie mangelt es an allen Ecken und Enden

Quellen: ifo, BANTLEON

Der Druck auf die Unternehmen, die Preise anzuheben, steigt

Gleichzeitig zwingt der enorme Kostendruck immer mehr Unternehmen, ihre Preise zu erhöhen. Im Rahmen der EU-Kommissionsumfrage im November gab fast die Hälfte aller befragten Industrieunternehmen an, in den kommenden Monaten die Preise anheben zu wollen. Im Dienstleistungssektor war es immerhin jedes fünfte Unternehmen. In beiden Fällen werden die bisherigen Höchststände aus den 1980er Jahren bzw. dem Jahr 2008 inzwischen bei Weitem übertroffen (vgl. Abbildung 12). 
 

Abb. 12: Der Preisdruck bei den Unternehmen in der Eurozone steigt massiv

Quellen: EU-Kommission, BANTLEON

Fazit: Ein rasch nachlassender Preisauftrieb ist wohl eher Wunschdenken

Bei keiner der genannten Knappheiten an Energie und Material zeichnet sich zurzeit eine rasche Trendwende ab. Mit Entlastung rechnen wir frühestens im Verlauf des nächsten Jahres. Selbst dann sollte sich der Preisdruck aber nur zäh abbauen. Ob die Preise wieder auf das Vorkrisenniveau sinken, darf bezweifelt werden, da ein Teil der Angebotsdefizite struktureller Natur ist. Wahrscheinlicher ist, dass die Unternehmen vielfach mit deutlich höheren Kosten werden leben müssen. Einen Teil dieser Kosten werden sie an die Konsumenten weitergeben. Der unterliegende Preisdruck sollte schon allein aus diesem Grund in den kommenden Jahren zunehmen. Wir gehen daher davon aus, dass die Teuerungsraten in der Eurozone und in den USA auf hohem Niveau verharren werden. Dies bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Geldpolitik. Nicht zuletzt sehen wir eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die EZB ihre Inflationsprognose für die Eurozone für die Jahre 2023 und 2024 von je 1,8% weiter anheben muss. Selbst für den prognostizierten Anstieg von 3,2% im Jahr 2022 überwiegen die Aufwärtsrisiken.

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