„Wir sind am Wendepunkt“

Cash.: Laufen wir Gefahr, in eine Ökonomie zu geraten, in der das kurzfristige Ertragsdenken den nachhaltigen Aufbau des Kapitalstocks behindert?

Händeler: Da es sich bei vielen Großaktionären um Profi-Anleger wie Versicherungen oder Banken handelt, deren Vorstände nur in Abhängigkeit von ihren Quartalszahlen überleben, ist es schwer, das auf kurzfristige Erträge gerichtete Shareholder-Value*-Konzept zu ändern. Aber wir sind an einem Wendepunkt. Wenn erst klar ist, dass wir es mit einem langfristigen Abschwung zu tun haben und die Situation in 2010 auch nicht viel besser aussieht, dann besteht die Chance, die Maßstäbe zu ändern, mit denen Anleger Aktien bewerten. Dann werden nur noch die Unternehmen interessant sein, die ihren Wert langfristig gepflegt haben – auf Kosten kurzfristiger Gewinne. Dann wird nicht mehr in Quartalen gedacht, sondern in Quartalsjahrhunderten.

Cash.: Was muss sich noch ändern, um die Basis für den nächsten langfristigen Wachstumsschub zu schaffen?

Händeler: Nach Kondratieff entstehen die Märkte von morgen dort, wo heute der höchste Innovationsdruck herrscht. So entstand die Dampfmaschine, weil die britischen Unternehmer mit der Entwässerung ihrer Bergwerke nicht mehr hinterherkamen. Die Erfindung der Eisenbahn war die Folge eines Engpasses im Transportsektor, der Computer die der explodierenden Info-Flut in den Arbeitsprozessen. Es muss also der kommende knappe Produktionsfaktor ausgemacht werden, um die notwendigen neuen Verhaltensweisen, Bildungsinhalte und Infrastrukturen aufzubauen, damit er sich entfalten kann.

Cash.: Was ist der nächste Megatrend und welcher verstopfte Flaschenhals blockiert ihn derzeit?

Händeler: Die meisten meinen: Energie und Rohstoffe. Es sind aber viele Innovationen in der Pipeline und es gilt,  viel zu investieren. Deshalb denke ich nicht, dass es Energie sein wird. Wir haben ein Bildungs- und Gesundheitsproblem. Wir brauchen ein System, in dem Gesunde gesund gehalten werden, und keins, in dem der Gesundheitssektor allein davon profitiert, Krankheiten zu reparieren. Außerdem muss man 20 Jahre in Bildung investieren, bis jemand wirklich produktive Wissensleistungen bringt. Die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, Bildungskapital mit 55 Jahren halbtot zu verrenten, das dann mit 70 zum Pflegefall wird und mit 80 stirbt.

Cash.: Wie können Anleger von diesem gesellschaftlichen Wandel profitieren?

Händeler: Indem sie Geld ausgeben, um ihre Kompetenzen zu erweitern und gesund zu bleiben. Indem sie in den Gesundheitsmarkt von morgen investieren. Indem sie bei Aktieninvestments auf die immateriellen Faktoren schauen, von denen der Wohlstand der Wissensgesellschaft abhängt. Im sechsten Kondratieff werden Länder und Firmen erfolgreich sein, die effizient mit Wissen umgehen, also weniger Ressourcen durch destruktive Streitkultur, Statuskämpfe, Wichtigtuerei oder fehlende soziale Kompetenz verlieren. Punkten werden Unternehmen, die auf Transparenz, Integrität, Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit setzen, die Konflikte nicht nach dem Recht des Stärkeren austragen und die solange in Mitarbeiter investieren, bis diese in der Lage sind, sie bahnbrechend weiterzubringen. Die materiellen Werte werden den immateriellen folgen.

Cash.: Das klingt nach schöner neuer Welt. Die bisherigen Kondratieff-Zyklen haben stets auch das Menschenbild der entsprechenden Epochen verändert. So ging die letzte Strukturwelle mit einer Individualisierung einher, die mitunter mit Einzelkämpfertum gleichgesetzt wird. Welche Charaktere werden die Zukunft prägen?

Händeler: Zunächst mal ist Individualisierung nichts moralisch Verwerfliches, wie oft getan wird, sondern eine Folge beruflicher Ausdifferenzierungen. Dadurch, dass das Wissen des Einzelnen komplexer wurde, stieg auch seine Verantwortung. Die Hierarchie-Strukturen wurden dahingehend zerstört, dass der Sachbearbeiter dem Chef heute fachlich sagen kann, wo es langgeht. Die nächste Stufe muss nun aber sein, sich für mehr als nur die eigene Kostenstelle verantwortlich zu fühlen.

Cash.: Was folgt daraus für den Berufsstand der Finanzberater?

Händeler: Niemand braucht mehr so zu tun, als ob er alles wisse. In guten Vertrieben arbeiten Berater im Team, jeder ist auf einem anderem Gebiet Spezialist und kann anderen helfen. Produkt- oder Mengenziele sollten nicht gesetzt werden, denn auf diese Weise wird der Bedarf der Kunden nicht gestillt. Die Beratung muss über Geldfragen hinausgehen. Im Kundengespräch zählt vor allem soziale Kompetenz, Vermitteln ist reine Informationsarbeit. Nur wer Kunden authentisch begegnet und sich nicht nur für ihre Aufträge, sondern auch für ihr menschliches Wohl interessiert, macht einen guten Job. Das Produkt ist nicht länger die Versicherung oder der Investmentfonds, sondern die soziale Qualität der Beratung. Verkaufswettbewerbe können nur zu Unmut und verbrannter Erde führen. Gute Geschäfte sind das Ergebnis von Weiterempfehlungen zufriedener Kunden und nicht von kurzfristig gewinnorientiertem Arbeiten.

Cash.: Wie sieht Ihr gesamtwirtschaft- und gesellschaftlicher Ausblick aus?

Händeler: Wir werden das bisherige Erwerbsleben aufbrechen, das aus den Abschnitten Lernen, Arbeiten und Rentnerruhe besteht. Im Informationszeitalter lernen und arbeiten die Menschen das ganze Leben hindurch, legen aber immer wieder Sabbatzeiten ein. Erfahrung gewinnt im Beruf an Wichtigkeit und ist bis zum Lebensende gefragt. Insgesamt nimmt die Flexibilität zu, sowohl in Bezug auf die Arbeit selbst als auch auf die Arbeitszeiten und den Arbeitsplatz. Die Rush Hour zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr, in der man alles – Familie und Karriere – hinbekommen muss, entzerrt sich, sodass Frauen und Männer die Gelegenheit bekommen, ihre Kinder aufzuziehen. Um das gesamte Wissen in Organisationen zu mobilisieren, setzt sich eine dienende Führungskultur durch. Ich bin froh, dass die Krise endlich anrollt. Weil wir uns nur so ändern, um zur nächsten Stufe des Wohlstandes zu kommen.

Interview: Hannes Breustedt

Foto: Carlo Carlucci

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