Ursula Deschka & Andrea Rohr, Ergo, im Interview: „Je mehr Frauen wir für den Vertrieb gewinnen können, desto mehr werden nachkommen“

Leitbilder zu haben ist das eine. Das Problem ist, dass diese von Menschen auch gelebt werden müssen. Nur sind Menschen nun mal nicht so, wie die Leitbilder es uns gerne vermitteln möchten. Das gilt definitiv auch für Versicherungsunternehmen.

Deschka: Das stimmt natürlich. Es passiert nur etwas, wenn alle mitziehen – Männer wie Frauen. Und genau dafür werben wir bei unseren Führungskräften und den Kolleginnen und Kollegen im Vertrieb. Das andere ist, dass wir als Unternehmen eine klare Richtung und konkrete Ziele vorgeben. Andernfalls bleibt es unverbindlich. Wir als Ergo haben das Ziel, den Frauenanteil in der Rekrutierung bis 2023 auf 35 Prozent zu steigern.

Schaffen Sie das Ziel?
Deschka: Ja, wir werden das schaffen. Wir lagen bereits im vergangenen Jahr nur leicht unter den 35 Prozent.
Rohr: Es bewegt sich in die richtige Richtung. Das ist das, was ich vorhin mit steigendem Interesse angesprochen hatte.

Was war für Sie der Grund, seinerzeit in den Versicherungsvertrieb einzusteigen?
Deschka: Im Alter von 22 Jahren habe ich ein Trainee-Programm in der Versicherungsbranche begonnen. Dort hatte ich die Gelegenheit, den Innendienst, den Personalbereich und eben den Vertrieb kennenzulernen. Der Vertrieb hat mir damals mit Abstand am besten gefallen. So habe ich auch nach dem Programm im Vertrieb weitergemacht. Besonders hat mir der direkte Kontakt mit den Menschen gefallen. Mit ihnen über ihre Bedürfnisse und die persönlichen Geschichten zu sprechen, das war abwechslungsreich und hat total viel Spaß gemacht. Aber auch, dass der Erfolg nach einem getanen Arbeitstag direkt sichtbar war. Ich wusste jeden Abend, ob meine Performance gut war oder eben nicht.

Rohr: Ich war damals 28 Jahre, Maklerin bei MLP und war unter der Woche alleinerziehend mit einem zweijährigen Sohn. Ich wollte zeitliche Selbstbestimmtheit, Unabhängigkeit, gutes Geld verdienen und selbstverantwortlich für meinen Erfolg sein. Insofern war der Versicherungsvertrieb für mich das richtige. Es gab gegenüber Frauen keine Ressentiments. Wer Leistung bringt, war anerkannt. Der Frauenanteil lag seinerzeit bei den Maklerinnen bei geschätzt 15 Prozent.

Laut Oliver Pradetto, Geschäftsführer von Blau Direkt, erwirtschaften Maklerinnen im Schnitt 25 Prozent mehr Umsatz als ihre männlichen Kollegen. Ihre Stornoquoten seien nur halb so hoch, sagt Pradetto. Und was auch niemand vergessen solle: Jeder zweite Versicherungskunde ist weiblich. Gleichwohl gilt die Finanzbranche immer noch als „Männerdomäne“. Haben Sie beide eine Erklärung dafür?
Rohr: Wenn man zum Beispiel in die Abteilungen schaut, in denen Tarife kalkuliert werden, etwa dem Aktuariat, sitzen dort relativ viele Frauen. Im Bereich Vertrieb sieht es leider nach wie vor anders aus. Dabei werden gerade im Vertrieb Kompetenzen gefordert, die insbesondere Frauen mitbringen. Es geht um Gespräche mit Menschen, mit Kunden. Es geht um die wichtige Frage einer guten und passgenauen Absicherung aller Lebensrisiken. Aus meiner Sicht ist das alles andere als trocken. Früher gab es die Auffassung, dass ich beim Versicherungskunden auf dem Sofa sitzen muss, um einen Vertrag zu verkaufen. Das stimmt heute nicht mehr. Ich kenne keine Vermittlerin, die um 20 Uhr noch bei einem Kunden im Wohnzimmer sitzt. Das kann sie machen, muss sie aber nicht, um erfolgreich zu sein. Dank der Digitalisierung gibt es inzwischen ganz andere Möglichkeiten. Viele Bilder und Klischees eines typischen Vertrieblers sind inzwischen komplett überholt. Das müssen wir den Frauen besser vermitteln.

Würden Sie sagen, dass das Frauenbild möglicherweise noch rückständiger ist, als im Vergleich zu anderen Branchen? Denn man hatte bis vor ein paar Jahren doch schon noch das Gefühl, dass etwa auf Finanzmessen Frauen doch gern als „schmückendes Beiwerk“ betrachtet wurden: Stichwort Standhostessen.
Deschka: Ich würde gerne anders auf die Frage schauen: Meiner Meinung nach haben wir uns als Branche zu lange zu wenig mit dem Potenzial von Frauen im Versicherungsvertrieb beschäftigt. Es ist bekannt, dass Frauen über eine hohe Sozialkompetenz verfügen; dass sie leistungsbereit sind – da genügt ein Blick auf die Schulnoten. Und sie gelten gemeinhin als gut organisiert. Lauter Eigenschaften, die für eine nachhaltige, langfristige Kundenbindung wichtig sind.

Ursula Clara Deschka: „Wir müssen für das Mindset sorgen.“ Foto: Florian Sonntag

Sie haben vorhin gesagt, dass der Vertrieb genauso divers sein muss, wie die Kundinnen und Kunden. Sind sie da auf offene Ohren gestoßen oder gab es Widerstände mit diesem Ansatz?
Deschka: Ich habe diese These immer auch mit kon- kreten Beispielen und Erfahrungen aus meinem Arbeitsalltag untermauert. Beispielsweise habe ich oft beobachtet, dass sich Frauen gerne mit anderen Frauen hinsichtlich
der Versorgung und Absiche­rung ihrer Familie austauschen. Mit diesem „Storytelling“ habe ich auch bei meinen Kollegen Interesse für dieses wichtige Thema geweckt.

Unsere Außenministerin Anna­lena Baerbock hatte den Begriff der feministischen Außenpolitik geprägt. Und sie hat genauer definiert, was genau sie damit meint. Sich um Menschen zu kümmern, die unter Ungerechtigkeit leiden. Und im Umkehrschluss davon die gesamte Gesellschaft profitiert. Wenn Sie diesen Begriff nehmen und auf den Finanzvertrieb übertragen, wie könnte so ein feministischer Finanzvertrieb aussehen?
Deschka: Ich fände es zu viel, wenn wir sagen würden, dass wir eine feministische Personalpolitik im Versicherungsvertrieb benötigen. Ich bin aber überzeugt, dass wir als Branche von mehr Frauen im Versicherungsvertrieb profitieren werden. Und das aus mehreren Gründen: Weil wir durch Vielfalt mehr Kundinnen und Kunden erreichen. Weil wir individueller auf Kundenwünsche eingehen können. Und weil sich eine diverse Vertriebsmannschaft auch positiv auf die Reputation der Versicherungsbranche auswirken wird.

Rohr: Es gibt Studien, die zeigen, dass gemischte Teams besser performen als uniforme Teams. Das ist im Vertrieb nicht anders.

Zum Abschluss noch eine Frage: Was ist Ihr persönliches Leitmotiv?
Rohr: Mein Motto lautet: Trau Dich und sprich es an. Mut haben und Dinge offen ansprechen. Das gilt für das Verkaufsgespräch ebenso wie für die Führungsarbeit. Das gilt auch für die eigene Karriere. Und natürlich auch für den Privatbereich. Ich liebe an meinem Beruf, dass man die eigene Kommunikationsfähigkeit hervorragend einbringen kann. Es geht um Menschen. Der Vertrieb ist eine ganz menschlich geprägte Tätigkeit. Und Vertrieb lebt von Kommunikation. Ob persönlich, telefonisch oder digital. Und da haben wir als Frauen besondere Stärken. Insofern möchte ich an die Frauen appellieren: Traut Euch. Nutzt Eure Stärken und kommt zu uns in den Vertrieb.

Deschka: Mein Motto ist seit ganz vielen Jahren: Nur wer Ziele hat, kann sie erreichen. Und eines meiner Ziele ist es, für mehr Frauen im Versicherungsvertrieb zu sorgen und dafür, dass wir in ein paar Jahren nur noch rückblickend darüber sprechen, wie es damals war, als wir mehr Frauen für den Versicherungsvertrieb begeistern wollten. Unsere Kundinnen und Kunden sind schon längst dafür bereit – da bin ich mir sicher. Es gab schon vor 20 Jahren Studien, in denen über 70 Prozent der Männer und Frauen sagte, dass es ihnen egal sei, ob sie von einem Mann oder einer Frau beraten werden. Zehn Prozent wollten sogar explizit mit einer Frau sprechen. Und genau aus diesem Grund müssen wir auch in unserer Branche für Vielfalt werben und die Botschaft weiter nach außen tragen. In diesem Sinne danke ich Ihnen herzlich für die Möglichkeit dieses Interviews.

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