Grundsicherung: Was eine hohe Rate der Nichtinanspruchnahme bedeutet

Rund 60 Prozent der anspruchsberechtigten Seniorinnen und Senioren nehmen Grundsicherung nicht in Anspruch, obwohl die Einkommen bei voller Inanspruchnahme im Schnitt um 30 Prozent steigen würden. 

Mehr als die Hälfte der Seniorinnen und Senioren, denen Grundsicherung im Alter zusteht, nehmen diese nicht in Anspruch. Dies ergibt eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), die vom Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA) der Deutschen Rentenversicherung Bund gefördert wurde.

Verdeckte Altersarmut lässt sich nur schwer quantifizieren. Die DIW-ÖkonomInnen Peter Haan, Hermann Buslei, Johannes Geyer und Michelle Harnisch haben den Versuch gewagt. Anhand von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) haben sie in unterschiedlichen Szenarien geschätzt, wie vielen Haushalten in der älteren Bevölkerung die Grundsicherung im Alter zustünde. Mithilfe der Angaben über den tatsächlichen Leistungsbezug ließ sich die Gruppe identifizieren, die zwar einen Anspruch hätte, diesen aber nicht geltend macht: Im Basisszenario sind es knapp 62 Prozent oder hochgerechnet etwa 625 000 Privathaushalte, die ihren Anspruch nicht wahrnehmen.

Besonders hoch ist die Quote bei Personen, die älter als 77 Jahre (73 Prozent) oder verwitwet (77 Prozent) sind. Auch ein niedriger Bildungsstatus geht damit einher, dass die Grundsicherung seltener in Anspruch genommen wird. Vor allem aber nehmen diejenigen, die monatliche Beträge bis 200 Euro aus der Grundsicherung zu erwarten haben, diese häufig nicht in Anspruch (80 Prozent). „Vielen ist das Verfahren vermutlich zu aufwendig – gerade bei kleinen Beträgen – oder sie wissen gar nicht, dass sie den Rechtsanspruch haben“, vermutet Studienautor Hermann Buslei. Auch die Angst, als „Almosenempfänger“ abgestempelt zu werden, könne eine Rolle spielen.

Altersvorsorgepolitik ist nur scheinbar erfolgreich

Um durchschnittlich rund 30 Prozent würde das Einkommen der Haushalte steigen, wenn sie Grundsicherung in Anspruch nähmen. Dies entspricht einer absoluten durchschnittlichen Einkommensänderung von 2 650 Euro pro Jahr oder etwa 220 Euro im Monat. Profitieren würde erwartungsgemäß vor allem die untersten zehn Prozent der Einkommen. Nähmen tatsächlich alle Grundsicherungsberechtigten ihre Ansprüche wahr, würde dies den Staat rund zwei Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich kosten, haben die DIW-ÖkonomInnen errechnet.

„Verdeckte Altersarmut ist ein weitverbreitetes Phänomen, dem man eigentlich mit der Einführung der Grundsicherung im Jahr 2003 entgegenwirken wollte“, berichtet Studienautor Johannes Geyer. Tatsächlich hat sich die Zahl der GrundsicherungsbezieherInnen seitdem von 260.000 auf 566.000 im Juni 2019 mehr als verdoppelt. Allerdings ist die Quote mit nur gut drei Prozent aller Personen ab der Regelaltersgrenze weiterhin niedrig. „Die niedrige Grundsicherungsquote ist schon deswegen kein guter Indikator für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung, weil die Nichtinanspruchnahme der Grundsicherungsleistungen hoch ist“, ergänzt Geyer.

Mehr Informationen und vereinfachte Verfahren notwendig

„Viele Menschen wissen nicht, dass sie anspruchsberechtigt sind oder erwarten nur geringe Beträge. Andere trauen sich nicht zuzugeben, dass sie bedürftig sind, und wieder anderen ist das Verfahren zu bürokratisch und aufwendig“, erklärt Studienautor Peter Haan. Wenn Unwissenheit, Stigmatisierung, und Komplexität die Gründe für die Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung sind, dann könne die Politik entsprechend reagieren. Das Informationsangebot müsste verbessert werden, um beispielsweise die unbegründete Angst vor dem Rückgriff auf das Einkommen oder Vermögen der Kinder zu nehmen. Der Stigmatisierung könne entgegengewirkt werden, indem der Rechtsanspruch auf Leistungen gegenüber der Vorstellung von Almosen im Alter betont wird. „Leider wurde auch in der aktuellen Diskussion um die Grundrente die Grundsicherung immer wieder als der zu vermeidende schlechte Status von der Grundrente abgegrenzt. Das hat das Stigma eher verschärft“, so Studienautor Geyer. Zudem sollten die Verfahren vereinfacht werden, indem beispielsweise die Berechtigten vorausgefüllte Anträge erhalten.

Zielführend könnte es auch sein, die Bewilligungsphase von derzeit zwölf Monaten zu verlängern, da sich die Einkommenssituation der Seniorinnen und Senioren in der Regel nicht mehr häufig grundlegend ändert. „Entfallen könnte auch die aufwendige Vermögensprüfung, da Vermögende in der Regel hohe Kapitaleinkünfte haben, die schon in der Einkommensprüfung zu Buche schlagen“, schlägt Peter Haan vor. „Eine vereinfachte Antragstellung und weniger Bürokratie könnte ein effizienter Weg sein, um die verdeckte Altersarmut etwas einzudämmen. Abschaffen kann man sie nur, wenn die Leistungen ohne Beantragung ausgezahlt würden.“

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