Noch nie zuvor haben sich so viele Berufsunfähigkeitsversicherer in die Karten schauen lassen: Für ihre aktuelle Leistungspraxisstudie hat das Analysehaus Franke und Bornberg die Daten von 16 Versicherern ausgewertet – ein neuer Rekord. Im Fokus stehen Leistungsentscheidungen aus dem Jahr 2023. Neben der reinen Datenanalyse werden pro Anbieter werden mindestens 125 Schadenakten vor Ort geprüft. Damit will Franke und Bornberg sicherstellen, dass die Ergebnisse auf einheitlichen Kriterien basieren.
„Rund um die BU-Schadenbearbeitung gibt es immer noch viel Halbwissen und manches Gerücht“, sagt Michael Franke, geschäftsführender Gesellschafter von Franke und Bornberg. „Wir bringen Licht in die Blackbox BU-Regulierung, denn wir übernehmen gemeldete Daten nicht einfach, sondern überprüfen und plausibilisieren sie. Auf diese Weise machen wir die Regulierungspraxis transparent.“
Ein zentraler Punkt der Studie ist die Frage, wie häufig BU-Versicherer eine Leistung ablehnen. Laut F&B liegt der Grund häufig nicht in einer klassischen Ablehnung durch den Versicherer, sondern an fehlenden Unterlagen oder einem Rückzug des Antrags durch die Versicherten selbst. Inzwischen machen solche Fälle mehr als die Hälfte aller sogenannten „Nicht-Leistungen“ aus, so die Erkenntnis aus der neuen Studie.

„Zum ersten Mal seit dem Start unserer Untersuchung entscheiden Versicherer über weniger als die Hälfte aller gemeldeten BU-Fälle“, berichtet denn auch Franke. Ein Grund für verfrüht beantragte Leistungen sei, dass Versicherte keine Fristen versäumen wollen. Zudem werde Berufsunfähigkeit mit vorübergehender Arbeitsunfähigkeit verwechselt, so Franke.
Laut F&B treffen die teilnehmenden Versicherer nahezu 80 Prozent aller Entscheidungen zugunsten der Anspruchsteller. Abhängig von Alter und Krankheit falle die Quote aber sehr unterschiedlich aus, betont F&B.
Welche Krankheiten machen berufsunfähig?
Gut 29 Prozent aller Leistungsfälle gehen auf psychische Erkrankungen zurück; Frauen sind davon besonders betroffen. BU-Ursache Nummer zwei sind Krankheiten des Muskel-Skelettsystems (19,4 %). Diese treffen Männer überproportional häufig. Bösartige Neubildungen (Krebs) liegen mit 17,8 Prozent an dritter Stelle. Das liegt nicht zuletzt daran, dass fast 95 Prozent aller Anträge mit der Diagnose Krebs 2023 zur Leistung führen. Unfälle und Verletzungen sind hingegen nur für jede 13. Berufsunfähigkeit verantwortlich.

Wie alt Versicherte bei Beginn der Berufsunfähigkeit sind, hängt stark von ihrer Erkrankung ab. Während psychische Krankheiten oder ein Unfall schon in jungen Jahren zum Aus im Job führen können, machen Krankheiten des Kreislaufs eher im fortgeschrittenen Alter berufsunfähig. Besonders häufig wird die BU-Rente zwischen dem 49. und 59. Lebensjahr bewilligt.
VVA: Rund 50 Prozent aller Ablehnungen bei unter 35-jährigen
Bei jungen Erwachsenen liegt die Ablehnungsquote besonders hoch. Die Hälfte aller Ablehnungen wegen Verstoßes gegen die vorvertragliche Anzeigepflicht (VVA) werden bis zum Alter 35 ausgesprochen.
Die teilnehmenden Versicherer zahlen jede zweite Leistung bis zum Ende der vertraglichen Leistungsdauer. Für rund 30 Prozent der Versicherten endet die Leistung vor Vertragsablauf, weil sich ihr Gesundheitszustand verbessert. Nur drei von hundert Leistungsempfängern werden auf eine Tätigkeit verwiesen, die dem Gesundheitszustand und dem erreichten Status entspricht.
Wie groß ist das Problem „Verweisung“ in der (Leistungs-)praxis?
Anders, als viele Veröffentlichungen vermuten lassen, spielt die Verweisung auf eine andere Tätigkeit in der Praxis kaum eine Rolle. „Als Ablehnungsgrund sind Verweisungen nur in homöopathischen Dosen nachweisbar“, kommentiert Franke. Mit einer Quote von 0,12 Prozent beziehungsweise sieben Leistungsfällen aus dem Altbestand eigne sich der Verzicht auf abstrakte Verweisung als Differenzierungsmerkmal längst nicht mehr, so Franke.
Das gelte auch für die Forderung nach Umorganisation des Unternehmens, die in weniger als 0,16 Prozent zu einer Ablehnung geführt habe. In Summe sind Verweisung und Umorganisation bei den teilnehmenden Gesellschaften für weniger als ein Prozent aller Ablehnungen verantwortlich.

Wie lange brauchen BU-Versicherer für ihre Entscheidung?
Laut F&B vergehen vom Eingang des Antrags auf BU-Leistungen bis zur Entscheidung rund sechs Monate. In der aktuellen Erhebung mit Daten aus dem Jahr 2023 dauerte es mit insgesamt 190 Tagen etwas länger. Für Ablehnungen nehmen sich Versicherer mehr Zeit (197 Tage) als für eine positive Entscheidung (179 Tage).
Bei psychischen Erkrankungen und bei Unfällen ist der Zeitbedarf besonders hoch, weil Regulierer oft auf ärztliche Gutachten oder Berichte von Polizei und Staatsanwaltschaft warten müssen. Vergleichsweise schnell fällt die Entscheidung bei Krebs.

Fachkräftemangel in der Leistungsprüfung: Wann kommt Kollege KI?
Die teilnehmenden Versicherer setzen auf veränderte Abläufe, um die Regulierungszeit zu verkürzen. Dazu zählen aktive telefonische Kontakte zum Kunden (Stichwort: sprechen statt schreiben) ebenso wie Hilfen beim Ausfüllen des Fragebogens. Denn allein dafür benötigen Versicherte bislang durchschnittlich 35 bis 45 Tage. Auch die systematische Kategorisierung von Leistungsfällen, die von spezialisierten Teams bearbeitet werden, zeigt laut F&B positive Ergebnisse. Digitale Tracking-Systeme für Versicherte und Sachbearbeiter beschleunigen die Leistungsbearbeitung ebenfalls.
Weitere Fortschritte und damit schnellere Regulierungen scheitern jedoch am Fachkräftemangel. „Der Markt für BU-Schadenregulierer ist leergefegt. Neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden, wenn überhaupt, nur mit großem Aufwand und für teures Geld akquiriert“, erläutert Philipp Wedekind, Leiter Ratings Vorsorge und Nachhaltigkeit bei Franke und Bornberg. Bietet künstliche Intelligenz (KI) einen Ausweg? „Eine KI-generierte Entscheidung von Leistungsfällen können sich die Verantwortlichen bislang nicht vorstellen“, so Wedekind. Dass eine KI über ihre Leistung entscheide, sei auch für viele Kunden nur schwer vermittelbar. Hinzu kämen hohe Hürden beim Datenschutz.
Trotzdem beobachten die Analysten vielversprechende Ansätze für den Einsatz von künstlicher Intelligenz und großen Sprachmodellen (LLM). In diesen Fällen ersetzt KI den Menschen nicht, kann ihm aber assistieren, zum Beispiel Korrespondenz auswerten oder umfangreiche Arztberichte und Krankenakten zusammenfassen.
Studienhintergrund
Für die aktuelle Untersuchung haben sich 16 Gesellschaften mit rund 48.000 BU-Leistungsfallmeldungen aus dem Jahr 2023: Allianz, Alte Leipziger, Axa, Continentale, Deutsche Ärzteversicherung, Dialog, DBV, Ergo, Generali, Gothaer, HDI, Münchener Verein, Nürnberger, Signal Iduna , Stuttgarter, Zurich. Die Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf Leistungsanträge, die 2023 abschließend entschieden wurden. Neben der statistischen Auswertung wurden mehr als 1.650 Leistungsfälle stichprobenartig geprüft. Ablehnungen wurden mit 60 Prozent übergewichtet, weil sie ein höheres Konfliktpotenzial bergen