Anlagejahr im Ausnahmezustand: Das Ende defensiver Strategien?

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Quo vadis, Börsen?

Das erste Börsenhalbjahr verlief für viele Anleger unerwartet widersprüchlich. In der zweiten Jahreshälfte rückt nun die Frage in den Fokus, wie man sich angesichts der Unsicherheiten rund um US-Zinsen, Inflation und Konjunktur am besten positioniert. Welche Sektoren noch ungenutztes Potenzial bergen

Die letzten sechs Monate zeichnete sich durch ein paradoxes Marktumfeld aus: Während geopolitische Spannungen, Handelskonflikte und volatile Märkte auf eine Korrektur hindeuteten, erzielten viele Aktiensegmente überraschend hohe Gewinne. Besonders deutlich zulegen konnten vor allem US-Technologiewerte, europäische Unternehmen mit kleinerer bis mittlerer Marktkapitalisierung sowie Sektoren mit engem Bezug zur Künstlichen Intelligenz. Enttäuschend entwickelten sich hingegen vermeintlich sichere Anlageklassen wie Rohstoffe oder Unternehmen aus dem Bereich der Gesundheitsdienstleistungen. „Wir sehen eine klare Rotation: Anleger ziehen Kapital aus defensiven Sektoren ab, weil dort kurzfristig weder Wachstumsimpulse noch Bewertungsvorteile erkennbar sind. Stattdessen fließt zunehmend Geld in innovationsgetriebene Branchen – insbesondere dorthin, wo die Märkte strukturelle Trends wie Künstliche Intelligenz oder Automatisierung voraussehen“, erklärt Dominik Mayr, Österreichsprecher und Finanzexperte beim Online-Broker Freedom24. Die Entwicklung im ersten Halbjahr zeigt: Der Markt belohnt derzeit vor allem Innovationskraft und skalierbare Geschäftsmodelle, während klassische – bislang als sicher geltende – Sektoren an Geltung verlieren. Für Anleger, die ihr Portfolio situationsgemäß justieren wollen, empfiehlt sich ein genauer Blick auf jene Branchen und Trends, die das zweite Halbjahr prägen könnten – und auf die Risiken, die bestehen bleiben.

Defensive Sektoren verlieren ihren Schutzstatus am Kapitalmarkt

Lange galten Gesundheitsdienstleister und Rohstoffe als verlässliche Häfen in unruhigen Börsenzeiten. Doch ausgerechnet diese Sektoren enttäuschten im bisherigen Jahresverlauf: Der US-Gesundheitsdienstleistungssektor verzeichnete im Mai einen Rückgang von rund 6,8 Prozent. „Trotz stabiler Nachfrage geraten Gesundheitsdienstleister unter Druck. Und das nicht nur aufgrund steigender Lohnkosten und regulatorischer Eingriffe. Anleger ziehen Kapital ab, weil der Sektor aktuell kaum strukturelle Wachstumsperspektiven bietet. Zugleich sinken die Margen, was die Profitabilität belastet“, erklärt Mayr. Während sich Pharma- und HealthTech-Werte robust zeigten, geraten Pflegekonzerne und Klinikbetreiber zunehmend unter Renditezwang. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Rohstoffbereich. Nach dem Boom 2022 und 2023 rutschten Öl- und Gasaktien im zweiten Quartal um bis zu zwölf Prozent ab. Ursachen dafür liegen neben sinkenden Preisen und geopolitischen Unsicherheiten auch im Überangebot am Markt. „Die starke Phase im Rohstoffsektor ist vorbei. Wir sehen das Ende eines zyklischen Booms, der nun in eine Periode struktureller Normalisierung insbesondere bei fossilen Energieträgern übergeht. Ursache ist nicht nur der Preisverfall, sondern vor allem eine strategischere Herangehensweise der Investoren: Geschäftsmodelle müssen heute profitabel, transparent und langfristig tragfähig sein“, so Mayr weiter. Eine Ausnahme bilden kritische Rohstoffe wie Lithium und seltene Erden, die weiterhin vom KI- und Batterieboom profitieren.

Zyklische Konsumwerte überraschen mit starker Performance

Trotz bekannter Herausforderungen zählt der Bereich zyklischer Konsumgüter derzeit zu den auffälligeren Performern. Allein im Mai 2025 legte das Segment der langlebigen Konsumgüter – etwa Haushaltsgeräte, Elektronik und Smart-Home-Produkte – um knapp 20 Prozent zu, getragen von stabiler US-Nachfrage, verbesserter Verbraucherstimmung und gelösten Lieferkettenproblemen. Auch im längerfristigen Vergleich zeigt sich eine widerstandsfähige Entwicklung. Über den Zwölfmonatszeitraum von Juni 2024 bis Mai 2025 erzielte der MSCI World Consumer Discretionary Index einen Zuwachs von rund 16,7 Prozent. „Unter normalen Bedingungen verlieren zyklische Konsumtitel bei hoher Inflation und schwachem Ausblick, doch aktuell sehen wir das Gegenteil“, so Mayr. Ihm nach lässt sich die unerwartete Stärke des Sektors auf mehrere Faktoren zurückführen. In den USA und Europa verfügen viele Verbraucher nach wie vor über Liquiditätsreserven. Gleichzeitig profitiert der Markt von aufgeschobenen Ersatzanschaffungen und einer stabilen Nachfrage nach hochwertigen Produkten. „Insbesondere im mittleren und gehobenen Preissegment bleibt die Zahlungsbereitschaft überraschend hoch“, so der Experte. Dennoch wirft er ein: „Tarifauseinandersetzungen, neue Einfuhrzölle und der anhaltende Wettbewerb aus China könnten die Dynamik im weiteren Jahresverlauf bremsen.“

Innovationswerte holen auf – während US-Technologiekonzerne weiter führen

Technologietitel aus den USA bleiben der Wachstumstreiber an den Weltbörsen. Konzerne wie Nvidia, Apple und Microsoft investieren weiter Milliardenbeträge in Künstliche Intelligenz, Cloud-Computing und Infrastruktur. Im Schatten dieser Giganten gewinnen jedoch zunehmend kleinere Tech-Aktien an Bedeutung. Unternehmen wie Joby Aviation aus dem Bereich der elektrischen Luftfahrt, Enovix mit innovativer Batterietechnologie oder SoFi als Vertreter neuer digitaler Bankangebote konnten seit Jahresbeginn zweistellige Kurszuwächse erzielen. „Hier entstehen Chancen durch einen frühen Markteintritt, die langfristig hohes Wachstum versprechen könnten“, erklärt Mayr. Zugleich verstärkt sich der Fokus institutioneller Anleger auf europäische Märkte. Die Unsicherheiten in den USA und der stabile regulatorische Rahmen in Europa führen hier zu einer Neubewertung. Vor allem europäische Small- und Mid-Caps überzeugen mit Innovationskraft und Spezialisierung. In Bereichen wie Automatisierung, Verteidigungstechnologie und Medizintechnik gelten viele Unternehmen als heimliche Weltmarktführer. Auch KI-nahe Softwarelösungen, Umwelttechnologien wie Solar- und Windenergie und Sicherheitslösungen verzeichnen dynamisches Wachstum.

Der Markt ist im Umbruch: Anlagestrategien müssen sich neu ausrichten

Die klassische Einteilung in „Value“ und „Growth“, „defensiv“ und „zyklisch“ greift 2025 immer seltener, wie der Finanzexperte erläutert: „Substanzwerte wie Versorger oder Basiskonsum enttäuschen, während dynamische Mid-Caps mit Fokus auf KI, Verteidigung oder Energieeffizienz zulegen – trotz Zinsdruck und wirtschaftlicher Unsicherheit.“ Gleichzeitig wandele sich auch das Investorenverhalten: „Anleger setzen zunehmend auf Zukunftsthemen mit strukturellem Rückenwind und trennen sich von Sektoren ohne deutliches Wachstumspotenzial“, betont der Freedom24-Experte. Gefragt sei heute eine flexiblere Allokation: robuste Large-Cap-Techs, ausgewählte Mid-Caps mit Momentum und ergänzend defensive Qualitätswerte für Stabilität. Mayr bringt es abschließend auf den Punkt: „2025 ist kein Jahr für starre Kategorien, sondern für strategisches Denken, Marktgespür und selektives Investieren.“

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