Die neue Bundesregierung versucht, mit ihrem Rentenpaket Stabilität zu signalisieren: Die Haltelinie von 48 Prozent wird gesetzlich bis 2031 fixiert, die Aktivrente soll längeres Arbeiten attraktiver machen, dazu kommen steuerfinanzierte Einzelmaßnahmen wie Frühstart-Rente oder Aufstockungen der Mütterrente. Was politisch nach Sicherheit klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als riskanter Kurs. Die strukturellen Probleme des Systems werden nicht gelöst, sondern lediglich vertagt, und die junge Generation trägt die Last.
Demografie und Finanzierung: Die Rechnung, die niemand sehen will
Deutschland steht mitten in einer historischen Verschiebung. Bis 2030 gehen mehr als sechs Millionen Menschen aus den Babyboomer-Jahrgängen in den Ruhestand. Während 1962 noch sechs Erwerbstätige die Rente eines Ruheständlers finanzierten, werden es 2030 nur noch 1,5 sein. Damit kollabiert die Grundlage des Umlagesystems. Doch diesen Umstand ignoriert die Politik seit Jahren gekonnt.
Die Fixierung des Rentenniveaus auf 48 Prozent verstärkt dieses Ungleichgewicht. Der Bundesrechnungshof beziffert die Mehrkosten bis 2040 auf zusätzliche 150 Milliarden Euro. Schon heute fließen jährlich über 100 Milliarden Euro Steuergeld in die Rentenkasse, Tendenz steigend. Das Sozialbudget wird 2030 voraussichtlich mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts binden. Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder Digitalisierung geraten damit systematisch unter Druck.
Das neue Rentenpaket verschärft diese Abhängigkeit zusätzlich: Die Finanzierung erfolgt weitgehend aus Steuermitteln, obwohl die Beiträge perspektivisch ohnehin steigen. Mit dem Beitragssatz könnte bereits 2035 die Marke von 54 Prozent der gesamten Sozialabgaben erreicht werden. Langfristprojektionen sehen sogar einen Anstieg auf über 60 Prozent.
Wenn Arbeit sich nicht mehr lohnt
Die steigenden Kosten treffen nicht nur die öffentlichen Haushalte. Sie gefährden auch die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland. Höhere Sozialbeiträge erhöhen die Lohnnebenkosten, senken das Netto der Beschäftigten und erschweren Unternehmen die Fachkräftegewinnung. Gleichzeitig sinken die individuellen Rentenansprüche, selbst nach jahrzehntelanger Einzahlung. Mehr als ein Viertel aller Menschen, die 45 Jahre lang Beiträge gezahlt haben, erhält heute weniger als 1.300 Euro Rente pro Monat. Die Grundsicherung im Alter erreicht bereits über 740.000 Menschen. Allein seit 2020 liegt ein Anstieg von 33 Prozent vor.
Währenddessen steigen die Wohn- und Lebenshaltungskosten weiter. Für viele Rentnerinnen und Rentner bleibt kaum mehr als ein Existenzminimum. Das System schützt nicht mehr zuverlässig, weder die, die einzahlen, noch diejenigen, die am Ende darauf angewiesen sind.
Die zweite Säule stagniert und niemand greift ein
Eine nachhaltige Rentenarchitektur braucht starke weitere Säulen. Doch die betriebliche Altersversorgung (bAV), eigentlich ein entscheidender Stabilitätsfaktor, bleibt politisch unterentwickelt. Zwischen 2019 und 2023 sank die Verbreitung der bAV von 53,4 auf 51,9 Prozent, und das trotz Reformversprechen der vergangenen Jahre.
Die Regierung spricht im Koalitionsvertrag von Digitalisierung, Entbürokratisierung und verbesserter Portabilität, doch die entscheidenden Hebel werden nicht angefasst. Ein echtes Opt-out-Modell scheitert weiterhin an Tarifvorbehalten. Die Förderung für Geringverdiener wird leicht angepasst, bleibt aber zu schwach, um wirklich Breite zu erreichen. Und die Doppelverbeitragung in der Krankenversicherung – einer der größten Vertrauensbremsen – bleibt unangetastet.
Innerhalb der bAV bestehen weiterhin massive strukturelle Defizite:
- Keine gesetzliche Klarheit zur Mindestbeitragsgarantie in der BOLZ,
- ein steuerlicher Rechnungszins von sechs Prozent in § 6a EStG, der aus den 1980er-Jahren stammt,
- veraltete Rechengrundlagen bei Unterstützungskassen aus dem Jahr 1946,
- ein nahezu unverständliches Zusammenspiel von Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht.
Diese Lücken limitieren nicht nur die Attraktivität der bAV für Beschäftigte, sondern hemmen vor allem kleine und mittlere Unternehmen, denen oftmals Ressourcen für komplexe Modelle fehlen.
Aktivrente: Ein sinnvoller Ansatz im falschen System
Die Aktivrente der Bundesregierung verfolgt eine richtige Idee: längeres Arbeiten ermöglichen, Know-how sichern, Rentenversicherung entlasten. Bis zu 2.000 Euro steuerfreier Hinzuverdienst sollen ab 2026 möglich sein. Doch auch hier bleibt das Konzept halbfertig. Der Steuerfreibetrag steht unter Finanzierungsvorbehalt – ein Haushaltsproblem genügt, und die Regelung wird verschoben.
Die aktuelle Diskussion, die Aktivrente auch auf Selbstständige auszudehnen, greift strukturell ins Leere. Selbstständige besitzen kein gesetzlich definiertes Rentenalter, keinen Anspruch auf eine Regelaltersrente und zahlen – abgesehen von freiwilligen Beiträgen – nicht in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Die Aktivrente ist jedoch exakt an diese Parameter gekoppelt. Eine Übertragung auf Selbstständige wäre deshalb nicht nur systemwidrig, sondern hochgradig verfassungsrechtlich fragwürdig. Stattdessen wird hier eine Scheindebatte geführt, die verdeckt, worum es politisch wirklich geht: Die Aktivrente soll das Rentenalter faktisch nach hinten schieben, ohne es offen auszusprechen. Dieser Mechanismus kann nur bei abhängig Beschäftigten greifen und sollte auch nur dort geregelt werden. Alles andere verwischt die Logik der Instrumente und lenkt vom notwendigen Reformbedarf des Gesamtsystems ab.
Ohne Kapitaldeckung bleibt alles Stückwerk
Während andere Länder längst auf breit diversifizierte Mischsysteme setzen – Schweden, Niederlande, Schweiz –, bleibt Deutschland bei kosmetischen Korrekturen. Die geplante Einführung eines Generationenfonds ist in der neuen Version des Rentenpakets unklar strukturiert und kaum kapitalisiert. Ohne substanzielle Kapitaldeckung lassen sich Beitragssatzanstiege nicht vermeiden.
Ein moderner Generationenvertrag muss den Faktor Kapitalmärkte nutzen. Andernfalls bleibt die Rente ein reines Umlagesystem, das in einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft absehbar überfordert ist.
Was jetzt geschehen muss
Eine zukunftsfähige Rentenpolitik darf keine Versprechen sichern, die bereits heute unfinanzierbar sind. Sie braucht einen klaren, langfristigen Reformpfad. Entscheidend sind drei Schritte:
1. Ehrlichkeit statt Symbolpolitik
Die 48-Prozent-Garantie darf kein Tabu sein. Nur ein flexibles Rentenniveau, gekoppelt an die reale demografische Entwicklung, verhindert eine Überlastung der Beitragszahler.
2. Kapitaldeckung stärken, aber richtig
Der Generationenfonds muss solide finanziert werden. Deutschland braucht eine echte kapitalgedeckte Ergänzung, die Erträge am Kapitalmarkt nutzt und die Abhängigkeit von Steuermitteln reduziert.
3. bAV endlich modernisieren
Ein Opt-out für alle Beschäftigten, klare Garantievorgaben, Modernisierung der steuerlichen Rechengrundlagen, Abschaffung der Doppelverbeitragung sowie digitale, KMU-taugliche Prozesse würden die bAV zu einem echten Stabilitätsanker machen.
Unternehmen dürfen nicht länger warten, bis die Gesetzgebung nachzieht. Moderne betriebliche Vorsorgekonzepte, die mit realistischen Lebenserwartungen arbeiten, transparente Kostenstrukturen bieten und Kapital im Unternehmen halten, können schon heute Versorgungslücken schließen. Eine flexible, verständliche und digital gestützte bAV ist nicht nur ein Personalinstrument, sondern ein Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilität.
Fazit: Deutschland steckt in einer rentenpolitischen Schieflage, die sich ohne mutige Reformen weiter verschärfen wird. Das aktuelle Rentenpaket lindert Symptome, adressiert aber nicht die Ursachen. Die demografische Zeitbombe tickt – und ihre Entschärfung erfordert eine strategische Neuausrichtung aller drei Säulen der Altersvorsorge. Solange die Regierung bei kosmetischen Korrekturen bleibt, wird das Versprechen von Sicherheit weder den Jungen gerecht noch den Älteren.
Autor Alexander Siegmund ist Experte für betriebliche Altersversorgung. Er ist Gründer und Geschäftsführer der KPM Pensions & Benefits GmbH und gestaltet seit über 25 Jahren die Branche aktiv mit – als Rentenberater, Betriebswirt bAV und Master of Pension Management.















