Mit jedem Jahreswechsel beginnt an den Kapitalmärkten ein vertrautes Ritual. Kaum sind die letzten Handelstage vorbei, erscheinen Jahresausblicke, Marktprognosen und Zielmarken für das kommende Jahr. Banken, Investmenthäuser und Strategen liefern präzise Zahlen und scheinbar klare Szenarien – stets mit dem Anspruch, Orientierung zu geben.
Das ist nachvollziehbar. Kapitalmärkte leben von Erwartungen und Anleger suchen Einordnung. Problematisch wird es erst dann, wenn aus Einordnung Gewissheit wird. Denn ein Blick zurück zeigt: Die Trefferquote vieler Prognosen ist überschaubar.
Wenn Prognosen auf Realität treffen
Ende 2024 wurden für 2025 zahlreiche konkrete Erwartungen formuliert. Die Deutsche Bank erwartete zum Beispiel einen Wechselkurs des US-Dollars von etwa 1,02 zum Euro. Tatsächlich liegt der Euro heute bei rund 1,17 Dollar. Die DZ Bank sah den DAX zum Jahresende 2025 bei etwa 21.500 Punkten – tatsächlich notiert der Index inzwischen deutlich über 24.000. Die LBBW prognostizierte für Gold 2.400 US-Dollar je Feinunze. Die Realität liegt mit etwa 4.300 US-Dollar satte 80% darüber. Goldman Sachs startete mit einer Goldprognose von 2.890 US-Dollar in das Jahr, korrigierte diese aber gleich im Februar auf 3.100 US-Dollar – und lag dennoch mehr als 30 Prozent unter dem heutigen Preisniveau.
Diese Beispiele sind kein Beleg für schlechte Arbeit. Im Gegenteil! Sie stammen von Häusern mit enormer Erfahrung und hochqualifizierten Research-Teams mit den weltweit besten Kapitalmarktexperten und Analysten. Genau darin liegt die eigentliche Erkenntnis. Wenn selbst die kompetentesten Akteure falsch liegen können, liegt das Problem nicht in mangelnder Expertise, sondern in der Natur von Prognosen.
Der Physiker Niels Bohr brachte es bekanntlich treffend auf den Punkt: „Prognosen sind schwierig – besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.“
Kapitalmärkte sind keine linearen Systeme
Kapitalmärkte sind komplexe, adaptive Systeme. Sie reagieren nicht linear auf einzelne Variablen, sondern auf ein Geflecht aus Erwartungen, politischen Entscheidungen, technologischen Entwicklungen und psychologischen Faktoren. Prognosen beruhen zwangsläufig auf Szenarien – und Szenarien setzen voraus, dass bestimmte Annahmen eintreten.
Heute ist die Zahl der Einflussfaktoren größer denn je. Politische Entscheidungen wirken unmittelbar auf Inflation, Zinsen, Währungen und Unternehmensgewinne. Geopolitik hat sich von einem Randthema zu einem dominierenden Marktimpuls entwickelt. In einem solchen Umfeld wirkt der Anspruch, verlässliche Jahresprognosen zu liefern, zunehmend fragil. Selbst die großen Entscheider auf dieser Welt scheinen heute nicht zu wissen, welche Richtung sie selber morgen einschlagen werden.
Mehrwert entsteht durch Handwerk
Das Problem besteht nicht darin, dass Prognosen falsch sind – das ist unvermeidlich. Kritisch wird es erst, wenn Anleger glauben, ihr Anlageerfolg hänge davon ab, die „richtige“ Einschätzung für das kommende Jahr zu haben. Die entscheidende Frage lautet daher nicht: Wer hatte recht?
Sondern: Wie entsteht unter diesen Bedingungen nachhaltiger Mehrwert?
Die Antwort ist unspektakulär. Mehrwert entsteht nicht durch Vorhersagen, sondern durch konsequentes und richtiges Handeln und dem damit einhergehenden ständigen Abgleich mit den neuen Gegebenheiten.
Dazu gehört eine professionelle Diversifikation über Assetklassen, Regionen und Währungen. Ergänzt um Produkte, die über lange Zeiträume gezeigt haben, dass sie Mehrwert gegenüber ihrer Benchmark erzielen können. Entscheidend ist zudem das Verhalten im Zeitablauf: regelmäßiges Rebalancing, das Durchhalten von Sparplänen, das Vorhalten von Liquidität für antizyklische Nachkäufe, das mutige Kaufen in starken Korrekturphasen und die konsequente Einhaltung definierter Risikobudgets.
All das ist uns allen bekannt. Und doch scheitert es in der Praxis häufig an Emotionen, insbesondere an Gier und Angst.
Psychologie als Renditefaktor
Ein erheblicher Teil des Anlageerfolgs entsteht dort, wo Zahlen enden und Verhalten beginnt. Anleger brauchen in unsicheren Phasen keine neuen Prognosen, sondern Struktur, Disziplin und Orientierung. Psychologische Begleitung ist kein weiches Thema, sondern ein harter Performancefaktor. Wer Panikverkäufe und hektische Umschichtungen ohne Struktur vermeidet, erzielt oft schon dadurch eine Mehrrendite. Wissenschaftliche Untersuchungen sehen daher den größten Hebel in der „psychologischen Begleitung“ der Anleger.
Prepare, don’t predict
Natürlich habe auch ich für 2026 eine fundierte persönliche Einschätzung: Zinssenkungen spätestens ab Sommer und steigende Geldmengen ab Jahresstart in den USA trotz struktureller und weiter steigender Inflationsrisiken, ein daraus resultierender schwächerer Dollar und die wachsende Bedeutung von Sachwerten wie Rohstoffen als Inflationsschutz und zurückgebliebenen Aktiensegmenten vor allem außerhalb der USA. All das mag jetzt für mich plausibel sein.
Doch am Ende bleibt eine ehrliche Frage: Ist diese Einschätzung wirklich richtig oder entscheidend?
Die Kapitalmarktforschung ist in diesem Punkt bemerkenswert eindeutig: Langfristiger Anlageerfolg ist weniger eine Frage der richtigen Prognose als der richtigen Struktur und des Verhaltens. Anders ausgedrückt, erklären also Asset Allocation, Disziplin und Verhalten einen deutlich größeren Teil der Rendite als jede makroökonomische Vorhersage oder Timing-Versuche. Anleger scheitern konkret gesagt an mangelnder Disziplin, an Emotionen, an dem Versuch, Märkte zu timen („Die Hall of Fame der Market Timer ist ein leerer Raum.“), statt Prozesse einzuhalten. Prognosen können Orientierung geben, sie ersetzen jedoch kein solides Handwerk.
Es ist daher wichtiger, Portfolios so aufzustellen, dass sie mit unterschiedlichen Szenarien umgehen können. Jahresausblicke können Denkanstöße liefern – mehr aber auch nicht.
Oder, wie es ein amerikanisches Sprichwort treffend formuliert:
“Better to prepare than predict.”
Autor Tim Bröning ist Geschäftsführender Gesellschafter der Bröning Investment & Consulting GmbH www.broening-investment.de, und u.a. Beirat bei Fonds Finanz.











