„Das größte Risiko in 2024 ist ein Inflations-Comeback“

Foto: Florian Sonntag
Die Diskussionsteilnehmer von links: Dr. Helmut Kaiser, Kapitalmarktstratege, Apella AG; Dr. Ulrich Kaffarnik, Mitglied des Vorstands, DJE Kapital AG; Dr. Johannes Mayr, Chefvolkswirt, Eyb & Wallwitz Vermögensmanagement GmbH

Das Jahr 2023 war bis zum Herbst durch zahlreiche Zinserhöhungen von Fed und EZB gekennzeichnet. Anschließend folgte eine kaum erwartbare Börsen-Rallye. Wie es in diesem Jahr an den Kapitalmärkten weitergehen könnte, wo Ertragschancen locken und wovon man sich als Vermittler und Anleger besser fernhalten sollte, diskutierten wir mit drei namhaften Experten aus zwei Investmenthäusern und einem Maklerpool.

Blick in den Rückspiegel: 2023 war ein Jahr massiver Zinssteigerungen. Gleichzeitig war es eines der besten Aktienjahre der letzten Zeit. Was ist hier „schiefgelaufen“? Gelten alte Gesetzmäßigkeiten nicht mehr?

Kaffarnik: Wenn wir über Zinssteigerungen reden, meinen wir die Leitzinserhöhungen der Notenbanken. Wir haben diese in Europa und in den USA gesehen. Wir haben sie dagegen nicht in Südamerika gesehen, und auch nicht in China. Das heißt, es gab ein Riesenauseinanderlaufen und nachdem die Fed signalisiert hat, die Zinsen nicht weiter zu erhöhen, haben wir sowohl am Aktien- als auch am Rentenmarkt eine extreme Hausse gesehen. Man muss auch noch einmal daran erinnern, dass  die Erwartungshaltung zum Jahreswechsel 2022/2023  miserabel war. Es stellte sich nur die Frage, wann die Rezession kommt. Dass sie kommt, war eigentlich völlig klar. Schlussendlich ist sie aber ausgefallen, was den Aktienmarkt beflügelt hat. Und dennoch war die Marktbreite tendenziell enttäuschend, im Wesentlichen haben nur sieben Aktien den Markt nach oben bewegt. 

Mayr: Vielleicht ein Punkt, der das Thema noch ein bisschen zuspitzt. Man kann auch sagen, de facto sind die Zinsen 2023 nicht mehr gestiegen, denn das, was für Wirtschafts- und Finanzmärkte relevant ist, sind die Kapitalmarktzinsen und nicht das, was die Notenbanken machen. Wir haben gesehen, dass die Finanzierungskonditionen für die Wirtschaft seit Herbst 2022 kontinuierlich lockerer geworden sind. Dieser Gap zwischen Leitzins und Finanzierungskonditionen war am Ende das Entscheidende für die Finanzmärkte. Die Fed hat also eigentlich über ein halbes Jahr komplett in der Luft getreten. Da ist nichts mehr Bremsendes in der Wirtschaft angekommen, sogar das Gegenteil ist passiert. Mit dem Blick nach vorne gerichtet stellt sich die Frage, wie weit eine Euphorie laufen darf. Denn je euphorischer man ist, desto stärker kann das Gegenteil am Ende passieren. Wenn sich die Finanzierungskonditionen zu früh lockern, besteht natürlich immer das Risiko, dass der Bremseffekt, den die Notenbanken eigentlich im Auge haben, ausbleibt oder schwächer ausfällt, als er notwendig wäre, um die Inflationsthematik in den Griff zu bekommen. Und das ist aus meiner Sicht zumindest das größte Risiko für 2024, dass der Markt wirklich auf dem falschen Fuß erwischt wird, die Lockerungen zu schnell am Markt angekommen sind und dadurch die Realwirtschaft und auch der Inflationszug wieder an Fahrt aufnehmen.

Für 2024 fiebern viele Marktteilnehmer bereits jetzt Zinssenkungen entgegen. Angesichts rückläufiger Teuerungsrate ein nachvollziehbarer Wunsch, aber ist er auch sinnvoll?

Mayr: Der Markt darf sich in seiner Zinssenkungserwartung nicht zu weit treiben lassen, denn sonst könnte genau das Gegenteil passieren, dass die Notenbanken eben gezwungen sind, noch mal auf die Bremse zu treten. Das ist jetzt nicht unser Szenario. Ich glaube, es ist Konsens, dass Zinssenkungen kommen, die aber nicht dramatisch ausfallen dürften, es sei denn, die Konjunktur fällt wirklich in die Rezession. 

Kaiser: Es hängt immer davon ab, von welchem Zins wir sprechen – Leitzins oder Kapitalmarkt? Interessant ist, dass wir faktisch am langen Ende genau da Ende des letztens Jahres rausgekommen sind, wo wir gestartet sind. Hinsichtlich der Zinsentwicklung in diesem Jahr müssen wir noch einmal schauen: Warum steigen oder fallen Zinsen? Kommt es eher von der Inflation her, oder von der Realwirtschaft? Wenn die Zinsen fallen, weil die Inflation zurückgeht und die Inflationserwartungen stabil bleiben und sich im Rahmen der Zentralbanken bewegen, ist das eigentlich eine positive Entwicklung. Das hilft dann den Bond-Märkten und damit über die Bewertung entsprechend und über den Diskontfaktor der Unternehmensgewinne auch den Aktienmärkten. Insofern haben wir vieles bereits verfrühstückt. Und last but not least wird vieles auch davon abhängen, ob die Rezession in den USA doch noch kommt oder ausbleibt.

Kaffarnik: Da wir uns in einem ganz normalen Zyklus befinden, war ich schockiert über das, was Powell gesagt hat. In einer Situation, in der der Markt bereits im Rallye-Modus ist, lege ich nicht noch einmal Feuer rein, indem ich für Zinssenkungsfantasien sorge. Wir haben in der Spitze bis zu sechs Zinssenkungen eingepreist. 90 Prozent der Marktteilnehmer haben Anfang Januar erwartet, dass es innerhalb eines Jahres mindestens fünf Zinssenkungen gibt. Es ist also bereits extrem viel eingepreist. Sollte es aber dazu kommen, dass die   Inflation nicht Richtung zwei Prozent, sondern in Richtung vier Prozent läuft, dann haben wir eine Situation, die das Gros der Menschen nicht auf dem Radar haben.

Für Berater und Vermittler ist sicherlich die Frage interessant, wer die Gewinner in der derzeitigen Situation sind. Multi Asset, Anleihen? 

Mayr: Wenn wir davon ausgehen, dass nur moderate Zinssenkungen realistisch sind und kein dramatischer Absturz der Wirtschaft und dementsprechend auch keine dramatische Zinswende droht, dann ist das derzeitige Szenario für einen ausgewogenen Mischfonds ein wunderbares makroökonomisches Umfeld. Ob es dann immer funktioniert, muss man abwarten, aber zumindest sieht es so aus, dass die Anleiheseite einen substanziellen Renditebeitrag leisten kann. Wir haben ein nominales Wirtschaftswachstum in den USA aus unserer Sicht von fünf Prozent. Das ist kein schlechtes wirtschaftliches Umfeld. Man kann mit positiven Entwicklungen am Aktienmarkt rechnen. Und die Anleihekomponente hat den großen Vorteil im Gegensatz zu den letzten fast zehn Jahren, dass sie zum einen wieder Renditesockel und zum anderen eben auch eine Pufferwirkung gegen ein konjunkturelles Risikoszenario bietet, was wir nicht gänzlich ausschließen können.  

Helmut Kaiser: „Gerade in Asien, das nicht zuletzt auch wegen Indien sehr gut läuft, gibt es den weltweit größten Freihandelsraum.“

Kaiser: Das Comeback von Multi Asset ist auf jeden Fall ein Punkt, der absolut valide ist. Vielleicht noch mal zwölf Monate zurück: Wir sind da reingegangen, wir haben gesagt, es wird vielleicht nicht einfach, weil Prognosen sind ja nie einfach, aber es wird auf jeden Fall ein besseres Jahr, weil 2022 ein Jahr war, in dem sowohl die Bond- als auch die Aktienmärkte dramatisch eingebrochen sind, beide gleichzeitig – Rex und Dax – fast mit jeweils 14 Prozent. Das gab es zuvor noch nie. Die Rückkehr von Multi Asset würde ich unterschreiben, genauso wie eine gewisse Normalisierung. Sie haben es bereits gesagt, fünf Prozent Nominalwachstum. Das sind wieder die alten Formeln. Früher waren die Bond-Renditen Nominalwachstum plus ein bisschen Liquiditätsprämie. Das waren die Modelle, und die funktionieren jetzt Gott sei Dank wieder ein wenig besser. 

Kaffarnik: Neben Multi Asset ist für diejenigen, die eher konjunkturoptimistisch sind, ein Engagement im High-Yield-Bereich interessant. Auch das Thema Investment Grade bei Unternehmensanleihen dürfte eine gute Idee sind. Beide Assetklassen werden nur dann wackeln, wenn die Rezession kommt. Und wenn sie kommt, dann gerät auch der Aktienmarkt noch einmal unter Druck. Das ist allerdings kein Mehrheitsszenario im Gegensatz zum 2022/2023-Wechsel.

Mayr: Ich glaube, die Bondseite ist auch deshalb interessant, weil es einen Unterschied zu den zurückliegenden Dekaden gibt. Damals waren die Staatsanleihen die sichere Assetklasse, auch im Rahmen der Mischfonds. Es ist allerdings fraglich, ob die Risikoprämien am Staatsanleihemarkt wirklich soweit nach unten laufen werden, um die Niveaus der Vergangenheit zu erreichen. Deshalb sollte ein Mischfonds auch auf der Anleiheseite diversifiziert sein. In dieser Hinsicht sind zum Beispiel Unternehmensanleihen im Investment-Grade-Bereich in vielen Regionen eine attraktive Alternative zu Staatsanleihen. Es ist davon auszugehen, dass Staatsfinanzen in 2024 immer mal wieder auch Thema werden und Risikoprämien eben zum Beispiel auch am US-Bond-Markt etwas ansteigen oder erhöht bleiben könnten. Denn die Amerikaner erleben aktuell eine wirtschaftliche Aufschwungsphase und gleichzeitig ein Haushaltsdefizit von sechs Prozent. Da das US-Wachstum von 2022 auf 2023 zugelegt hat, sollten die USA jetzt eigentlich in eine Phase der Konsolidierung der Staatsfinanzen eintreten, aber das Defizit steigt weiter. Und sollte Biden die Wahlen gewinnen, wird es so weiterlaufen. 

Kaiser: Es gibt da ein schönes Buch von Barry Eichengreen, mit dem Titel „Exorbitant Privilege – the rise and fall of the dollar“. Die US-Staatsverschuldung gibt es schon eine ganze Weile und beschäftigt jedes Jahr aufs Neue den Government Shutdown. Wir haben diese Diskussion auch, wir haben sieben Prozent GDP-Defizit und 120 Prozent Staatsschulden. Jeder Emergent Market wie Thailand oder Indonesien wäre wahrscheinlich schon unter Druck oder abgestraft. Aber die USA sind nun mal die  Nummer eins, exorbitantes Privileg überall, bei Währungen, bei Bonds und bei Aktien. Das zu brechen wird schwierig. Man weiß auch gar nicht, ob man es brechen will oder kann. In Bezug auf die Staatsverschuldung müssen wir bei den USA andere Maßstäbe anlegen als bei Schwellenländern und auch bei anderen Industrieländern. Es kommt immer auch auf die Tragfähigkeit der Staatsschulden an, die in den USA nach wie vor gegeben ist.

Wie sieht es auf der Emerging Market Seite für 2024 aus?

Kaffarnik: Ich hatte unlängst eine Diskussion, die in die Antwort mündete: Schwellenländeranleihen, wenn nicht jetzt, wann dann? Das würde ich unterschreiben. Und wir haben bereits sehr gute Entwicklungen etwa in Brasilien oder Mexiko gesehen.  

Mayr: Die Schwellenländer haben 2024 vermutlich wieder ein ordentliches Wachstumsdifferenzial zu den entwickelten Ländern. Denn die US-Wirtschaft läuft zumindest etwas schwächer und Europa steckt in der Krise. Auf der anderen Seite wäre ich dennoch vorsichtig, sehr breit in die Schwellenländer zu gehen. Man sollte sehr genau hinschauen, welche Schwellenländer von welchen Verschiebungen in der Weltwirtschaft profitieren. Länder wie Mexiko sind sicherlich Profiteure von Reshoring-Aktivitäten in den USA. Viele Unternehmen gehen weg von einer China-only-Strategie und eher hin zu China Plus und nehmen ein weiteres Schwellenland wie Mexiko mit dazu. Andere Schwellenländer profitieren vielleicht von der KI Supply Chain. Aber da kommt es dann schon sehr drauf an, welche Region man sich genau anschaut.

Kaffarnik: Der Vorteil bei den Schwellenländern ist, dort laufen die Zinssenkungen bereits.  Da muss niemand mehr spekulieren, und das ist schon eine Unterstützung, kurzer Zins stützt sozusagen den Renditerückgang am langen Ende.

Mayr: Das ist ja auch der Grund, warum die Schwellenländer sehr gut durch die Jahre 2022/2023 gekommen sind. Sie waren, anders als in den bisherigen Zinszyklen, vor der US-Kurve. Da waren sie zum Teil wirklich entschlossen und man muss den Notenbanken ein großes Kompliment machen, was ihre Unabhängigkeit betrifft. Das spricht auch für eine institutionelle Stärke dieser Emerging Markets. Man hat eben nicht dem politischen Druck nachgegeben, die Konjunktur anzuschieben. Stattdessen hat man frühzeitig die Straffung der monetären Konditionen vorgenommen. Damit ist kein Kapital in die USA abgeflossen und wenn, dann nur moderat. Das war ein sehr starkes Zeichen zumindest von einer ganzen Reihe lateinamerikanischer Staaten.

Johannes Mayr: „Geopolitisch kann immer mal ein Störfeuer auftreten. Aber man sollte dadurch nicht den Blick verlieren, was wirklich in der Ökonomie passiert.“

Was bedeutet die derzeitige konjunkturelle Großwetterlage für die Weltwirtschaft insgesamt?

Kaiser: Gerade in Asien, das nicht zuletzt auch wegen Indien sehr gut läuft, gibt es den weltweit größten Freihandelsraum. Das sollte die Weltwirtschaft nach oben ziehen.

Kaffarnik: Die Wahrscheinlichkeit für eine Weltrezession in 2024 ist extrem gering. Da müsste wirklich alles schief gehen, was schief gehen kann.

Mayr: Solange die Inflation niedrig bleibt. Das muss man immer dazusagen. Das ist der große Faktor.

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