ESG-Kriterien in der Praxis: Nachhaltig oder nicht?

Grundlage für die Präferenzabfrage sind jedoch nicht etwa an erster Stelle die EU-Offenlegungsverordnung und die Taxonomie, sondern eine weitere EU-Vorschrift: Eine Unterverordnung („delegierte Verordnung“) zur Finanzmarktrichtlinie MiFID II. Dort werden wiederum drei eigene Kategorien definiert, die allerdings nicht komplett der Offenlegungsverordnung und der Taxonomie entsprechen. Immerhin scheint sich mittlerweile herauskristallisiert zu haben: Auch wenn sich die Definitionen nicht ganz decken, landen in der ersten MiFID-Kategorie wohl im Wesentlichen die Artikel-9- und in der zweiten Kategorie die meisten Artikel-8-Fonds.

Die größte Herausforderung für den Vertrieb dürfte indes die dritte MiFID-Kategorie sein. Dort können die Kunden bestimmte Ausschlusskriterien bestimmen (Principal Adverse Impact Indikators, kurz PAI). Sie sind in der Unterverordnung zur Offenlegungsverordnung aufgelistet, die Kunden können aber auch eigene Kriterien definieren. Gerade für Artikel-6-Fonds sind die PAI von Bedeutung, weil sie ansonsten gar keine Nachhaltigkeitseinstufung haben und der Vertrieb die Produkte nicht vermitteln darf, wenn der Kunde bestimmte PAI benennt, die der Fondsanbieter nicht zuvor ausgeschlossen hat.

Die ESG-Abfrage ist also einmal mehr eine ziemliche bürokratische Herausforderung für alle Beteiligten. Ein Jahr nach dem ersten Inkrafttreten ist Zeit für eine Bestandsaufnahme. So lautete der Arbeitstitel in der Ankündigung dieses Artikels im veröffentlichten Cash.-Themenplan: „Wie ESG-Kriterien und Nachhaltigkeitsabfrage Anbieter und Produkte verändert haben“.

Bisher neun Publikums-AIFs nach Artikel 8 oder 9

Die Antwort darauf kann für die Branche der Sachwertanlagen, recht kurz ausfallen: Wenig bis gar nicht. Bislang sind neun Publikums-AIFs mit Einstufung nach Artikel 8 oder 9 auf den Markt gekommen. Lediglich zwei davon verfügen über die Klassifizierung nach Artikel 9: Die aktuellen Fonds von Ökorenta und Hep. Beide haben einen natürlichen Startvorteil: Sie investieren im Bereich Erneuerbare Energien. Beide Anbieter berichten zwar von einigem bürokratischen Aufwand sowie der Notwendigkeit neuer interner Kontroll- und Dokumentationsmechanismen, um die Kriterien für Artikel 9 zu erfüllen. Im Kern haben sich die Fonds deshalb aber nicht wesentlich verändert.

Auch der ImmoChance Deutschland 12 Renovation Plus von Primus Valor verfolgt das gleiche Konzept wie seine Vorgänger-Fonds: Den Kauf von Bestands-Wohnimmobilien und deren Aufwertung. Dazu zählt seit Jahr und Tag regelmäßig die energetische Sanierung, was nun bei der Qualifizierung als Artikel-8-Fonds hilft. Notwendig war auch in diesem Fall nur eine Reihe von formalen Anpassungen und Definitionen. Das war sicherlich mühselig, erforderte aber keine Änderung der Investitionsstrategie.

Die anderen bisher nach Artikel 8 eingestuften Immobilienfonds von Paribus, Patrizia Grundinvest, Verifort Capital und Wealthcap lassen ebenfalls keine grundlegenden Veränderungen gegenüber den jeweils vorherigen Fonds erkennen, wobei zum Teil vielleicht die Auswahlkriterien für die Objekte gezielt auf die ESG-Kriterien ausgerichtet worden sind und insofern ein entsprechender Einfluss besteht. Die anderen aktuellen Publikums-AIFs am Markt sind, soweit ersichtlich, mit Ausnahme eines Dachfonds von BVT noch als Artikel-6-Fonds eingestuft. Die praktischen Auswirkungen der ESG-Regulierung auf die Investitionen sind somit insgesamt noch überschaubar.

Wenig positive Impulse im Vertrieb

Für den Vertrieb ist die Bürokratie durch die ESG-Abfrage ebenfalls groß, die positiven Impulse für das Geschäft hingegen bislang offenbar klein. So berichtete Thorsten Eitle, CSO von Hep, unlängst im Cash.-Video-Interview, er sehe durch die Artikel-9-Einstufung seines Fonds bisher noch keinen Vorteil, was die Platzierung betrifft. Ähnlich äußerte sich Ökorenta-Geschäftsführer Jörg Busboom, ebenfalls im Cash.-Video-Interview, in Bezug auf die Kunden. Die Artikel-9-Einstufung des Fonds sei aber für einige Vertriebe relevant, vorrangig aus der Bankenwelt.

Auf der anderen Seite berichtete – ebenfalls vor der Cash.-Kamera – Nico Auel, Geschäftsführer von RWB Partners, dass die Einstufung der RWB Private-Equity-Dachfonds unter Artikel 6 die Platzierung nicht behindert. Der Vertrieb habe durch die ESG-Abfrage mehr Aufwand, die Nachfrage nach den Fonds sei aber weiterhin hoch, so Auel. Dazu passt, dass RWB unlängst mitteilte, der Fonds International 8 habe vier Monate vor dem Platzierungsende die Schwelle von 100 Millionen Euro Zeichnungssumme überschritten.

Die ESG-Thematik hat also bei Vertrieb und Kundschaft bislang offenbar noch einen recht geringen Stellenwert. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass für die Branche derzeit andere Herausforderungen im Vordergrund stehen. Dazu zählen der Zinsanstieg, die Inflation, die vielfach bröckelnden Immobilienpreise und die generelle Verunsicherung der Kunden seit Beginn der Ukraine-Kriegs. Aktuell kommt noch der Schock durch die Insolvenz des zuvor langjährig erfolgreichen Projektentwicklers Project Immobilien und die möglichen Folgen für die Project-Fonds hinzu.

ESG-Skurrilitäten erklären

Doch sobald sich das Umfeld wieder ein wenig beruhigt hat, wird wohl auch das Thema ESG weiter in den Vordergrund treten. Dazu dürfte auch beitragen, dass gerade in den vergangenen Monaten (nicht nur) den Kunden die Dringlichkeit des Klimaschutzes durch die fast täglichen Katastrophen-Meldungen über die Folgen von Ex­tremwetter-Ereignissen wie glühende Hitze, riesige Waldbrände nach monatelanger Trockenheit, aber auch Überschwemmungen nach Starkregel, Mega-Hagel oder Sturmschäden zunehmend deutlich vor Augen geführt wird.

Obwohl die ESG-Thematik mittlerweile in die meisten Beratungsprozesse integriert wurde, ist es aber sicherlich nicht förderlich, dass aus einer sinnvollen Idee einmal mehr eine riesige Bürokratie entstanden ist, die kaum jemand versteht. Anbieter und Vertrieb haben also noch einige Arbeit vor sich, der Kundschaft die Sache näher zu bringen. Dazu zählt auch, die vielen ESG-Skurrilitäten zu erklären, also zum Beispiel, warum es eine durchaus positive Nachricht ist, wenn ein Finanzprodukt ökologische und/oder soziale Merkmale bewirbt, ohne jedoch nachhaltige Investitionen vorzunehmen.

Dieser Artikel stammt aus der neuesten Cash.-Ausgabe (Heft 10/2023).

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