Grenzen im Kopf: Ist ESG am Ende? (Bröning-Kolumne)

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Tim Bröning, Fonds Finanz

Ölkonzerne verzeichnen Rekordgewinne und sind wieder vermehrt in Anlegerdepots zu finden. Hat sich damit der Nachhaltigkeitstrend bereits erledigt, bevor er richtig ans Laufen gekommen ist? Die Bröning-Kolumne

So manche Gewinnmeldung des ersten Quartals erschien geradezu aus der Zeit gefallen. Die großen Ölkonzerne der Welt gaben für das vergangene Jahr Rekordprofite bekannt. Der europäische Player Shell verdoppelte seinen Gewinn 2022 im Vergleich zum Vorjahr – von rund 20 auf 40 Milliarden US-Dollar. Jede Stunde generierte das Unternehmen somit einen Profit von viereinhalb Millionen Dollar. Gleichzeitig gab der Konzern bekannt, seine Ausgaben der Sparte für erneuerbare Energien erstmals seit Jahren nicht mehr zu erhöhen. Laut der Financial Times will Shell sogar die Zahl der Manager, die für die Sparte verantwortlich sind, reduzieren. All das soll die Shell-Aktie attraktiver für Anleger machen.

Die großen Öltitel sind auch wieder präsenter in den Portfolios vieler Anleger vertreten. Nicht zuletzt im MSCI World Index, auf dem die wohl beliebtesten globalen ETFs basieren, machte das Branchenschwergewicht Exxon Mobil ein Comeback in die Top-10-Titel. Nachhaltig orientierte Anleger könnten sich fragen, ob die Investmentbranche das ESG-Zeitalter aufgibt, bevor es überhaupt angefangen hat. Doch vor diesem voreiligen Schluss sollten sich Investoren in Acht nehmen.

Die vielleicht größte Investmentchance dieses Jahrzehnts

Letztendlich liegen die Rekordgewinne der westlichen Ölriesen vor allem im Zusammenwirken zweier Faktoren begründet:  Einer steigenden Nachfrage durch die wiederanlaufende Wirtschaft nach der Pandemie bei einem gleichzeitigen Angebotsrückgang durch den Importstopp russischer Brennstoffe. Investoren mussten sich dem Momentum der Kapitalmärkte anpassen, was bedeutete, dass sie vom Growth- zum Value-Stil umschichteten. Letzterem sind auch die Ölriesen dieser Welt zuzuordnen. Somit trieb die Outperformance der Ölwerte diese wieder in viele Anlegerportfolios.

Dass fossile Brennstoffe wieder gefragt sind, sagt langfristig jedoch wenig über die Attraktivität nachhaltiger Investments aus. Sofern die Menschheit die globale Erwärmung annäherungsweise eindämmen will, steht ein gewaltiger Ausbau im Bereich der erneuerbaren Energien und anderer nachhaltiger Technologien erst noch an. Das nachhaltige Zeitalter ist intakt und bietet weiterhin eine der vielleicht größten Investmentchancen dieses Jahrzehnts.

Vorsicht ist für Anleger allerdings im Regulierungswirrwarr geboten. Laut eines Branchenmagazins hat sich die Zahl der Fonds gemäß Artikel 8 der nachhaltigen EU-Offenlegungsverordnung binnen eines Jahres auf mehr als 2.200 Produkte verdoppelt. Dieser rasante Anstieg wirft nicht nur für unsere hauseigenen Experten Fragen über die Qualität der Fonds, aber auch der Regulierung auf. So rechnet die Commerzbank mit weitreichenden Herabstufungen bei Artikel-8-Fonds, sollten sich vorgeschlagene Regulierungsverschärfungen der europäischen Marktaufsichtsbehörde ESMA durchsetzen.

Offenbar ist den Regulatoren bewusst geworden, dass ein Teil der Vorschriften bislang zu lasch ausfällt. Jetzt decken sie den Brunnen ab, nachdem das Kind hineingefallen ist. Geht es nach der ESMA, sollen Fonds die „Sustainable“ im Namen tragen mindestens zu 40 Prozent gemäß der Nachhaltigkeitsregeln der Offenlegungsverordnung anlegen. Fonds mit dem Kürzel „ESG“ müssen sogar 80 Prozent ihres Portfolios Nachhaltigkeitszielen verschrieben haben. Die möglichen Nachbesserungen zeigen: Anleger dürfen sich nicht allzu sehr auf die Behörden verlassen. Letztendlich sollte jeder Investor bewusst entscheiden, welche nachhaltigen Maßstäbe er ansetzen will.

Der Wahrheit ins Auge sehen

So sehr sich manche Dogmatiker auch danach sehnen mögen: Ein Schwarz-weiß-Denken ist beim Weg in die nachhaltige Zukunft ebenfalls kontraproduktiv. Am besten zeigt sich das am Abbau von Spezialrohstoffen, der von manchen Markteilnehmern verurteilt wird und aus Nachhaltigkeitsgründen häufig aus Anlagestrategien ausgeschlossen ist. Mit reinem Gewissen und aus voller Überzeugung werden Gelder stattdessen bevorzugt in die Aktien der Hersteller von Elektroautos, Windrädern, Solarmodulen & Co. gesteckt, die diese Rohstoffe verbauen. Dass die Energiewende Unmengen an Ressourcen erfordert, ist kein Geheimnis. Laut der internationalen Energiebehörde (IEA) werden zum Beispiel zur Errichtung eines Windparks bis zu siebenmal so viele Rohstoffe benötigt wie bei einem Kohlekraftwerk mit identischer Leistung. Das reine Gewissen ist somit oft auch reine Illusion.

Investoren haben dennoch die Möglichkeit, mit ihren Geldern die Fonds und Unternehmen mit hohen Ansprüchen zu fördern. Dazu müssen sie jedoch der Wahrheit ins Auge sehen. Egal an welcher Stelle der Wertschöpfungskette sie anlegen, einige der Spezialmetalle, die besonders wichtig für erneuerbare Energieprojekte sind, werden in Schwellenländern unter problematischen Bedingungen gefördert. Nicht selten gefährden sie die dortigen Arbeitskräfte und zum Beispiel durch Wasserverschmutzung die Umwelt.  Durch die bewusste Einflussnahme von Investoren und das Auge der Öffentlichkeit lassen sich die Förderbedingungen nachweislich verbessern. Ähnlich sieht es übrigens auch die Menschenrechts-organisation Amnesty International. Sie warnt Unternehmen sogar davor, sich aus Ländern zurückziehen, nur weil sie aufgrund der dortigen Arbeitsbedingungen negative Berichterstattung fürchten. Der Verlust eines Wirtschaftszweiges könnte für die Menschen in den Schwellenländern letztendlich viel größere Schäden bedeuten.

Das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit

Zumindest einen Anteil am Portfolio hat die nachhaltige Investmentchance verdient, sei es in Form von Aktien nachhaltiger Versorger, erneuerbaren Energien oder Spezialmetallminen. Jeder Anleger sollte sich auch selbst die Grenze abstecken, ab der Nachhaltigkeit für ihn anfängt und wieder aufhört.

Doch Vorsicht vor allzu starren Grenzen im Kopf. Dass es nachhaltige Grauzonen gibt, ist umso mehr ein Grund sich mit den Investments zu beschäftigen, statt das Handtuch zu werfen. Denn ein klares Bekenntnis zur Verbesserung der Nachhaltigkeit ist vielleicht wichtiger als das vermeintlich perfekte grüne Investment.

Nachhaltig orientierte Anleger sollten sich vom Comeback der fossilen Brennstoffe nicht verunsichern lassen. Solange sich mit Öl und Gas gute Gewinne einfahren lassen und Anleger dies belohnen, bleibt die Motivation für Ölkonzerne groß, das herkömmliche Geschäft zu priorisieren und an anderen Stellen zu sparen. Wie lange dieser Ansatz noch funktioniert, wird sich erst noch zeigen. Auf die lange Sicht sind Anleger, die einen Ausbau ihrer nachhaltigen Investments in Betracht ziehen, Ölriesen wie Shell aber einen gewaltigen Schritt voraus.

Tim Bröning ist seit 2009 in der Geschäftsleitung der Fonds Finanz Maklerservice GmbH und verantwortlich für den Bereich Non-Insurance, Finance & Legal.

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