Recruiting: Eigene Wege, eigenes Netzwerk

Dr. Matthias Wald
Foto: Aaron Leithaeuser
Matthias Wald, Swiss Life Deutschland

Der Nachwuchsmangel im Finanzvertrieb wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Wie die Branche gegensteuern kann.

Egal ob Ingenieur- oder Gesundheitswesen, Handwerk, Verwaltung oder IT: Deutschland kämpft im Jahr 2023 mit einem alarmierenden Mangel an qualifizierten Fachkräften. In unzähligen Branchen (und Regionen) fehlen Fach- und Arbeitskräfte: Die sogenannte „Fachkräftelücke“ lag laut Institut der deutschen Wirtschaft im Dezember 2022 bei 533.000. Diese Zahl umfasst die offenen Stellen, die rein rechnerisch nicht besetzt werden konnten, da es keine passend qualifizierten Arbeitslosen für sie gab.

Bei der Aufzählung der Branchen fehlt der Finanzvertrieb – doch auch dort ist die Situation angespannt. „Wir erwarten, dass der Nachwuchsmangel – der heute im Finanzvertrieb schon zu sehen ist – in den nächsten Jahren immer deutlicher wird“, sagt Ronald Perschke, Vorstand des Aus- und Weiterbildungsanbieters Going Public. „Die Corona-Jahre haben das kurzzeitig etwas abgemildert, weil man von der Freisetzung anderer Branchen profitieren konnte. Aber die zukünftigen Trends sind klar: Der hohe Altersdurchschnitt in der Branche führt zu einem Rückgang der vorhandenen Vermittler, gleichzeitig wurde die Gewinnung von Nachwuchs durch Banken, Versicherungen, aber auch große Vertriebe seit langem immer mehr zurückgefahren.“ Ein allgemein entspannter Arbeitsmarkt und eher überzogene Erwartungen an Vertriebserfolge durch „Technisierung“ der Beratung führten dazu, dass es nicht leichter werde, qualifizierte junge Menschen für die Branche zu gewinnen.

Auch der schlechte Ruf der Branche spielt dabei eine Rolle – die Schlagzeilen über Drückerkolonnen und Sex-Partys in Budapest wirken bis heute nach. „Das ramponierte Image hat dazu geführt, dass junge Menschen mit Entwicklungspotenzial nicht als erstes von einer Tätigkeit in der Finanzbranche träumen“, betont Perschke. „Dies lässt sich am besten dadurch überbrücken, dass man bei der Werbung um Nachwuchs auf persönliche Ansprache setzt und dabei deutlich macht, welche verantwortliche Tätigkeit der Finanzberater im Rahmen der Lebensplanung von Menschen wahrnimmt und es dafür eine hohe Fachkompetenz braucht.“ Gerade motivierte junge Leute suchen seiner Einschätzung nach persönliche Entwicklungsperspektiven. Das schließe Verantwortung, Erfolgsaussichten und Weiterbildungsmöglichkeiten im Betrieb ein – zum Beispiel könne man junge Leute über die Qualifikationsstufen Fachwirt/Bachelor/Master über viele Jahre erfolgreich an das eigene Unternehmen binden und gleichzeitig die Erwartungen an die persönliche Entwicklung junger Menschen erfüllen.

Schreckt auch die fortlaufende Diskussion über das Vergütungssystem potenzielle Bewerber ab? Nachdem zunächst sogar ein vollständiges europaweites Provisionsverbot im Raum stand, wird seit der Veröffentlichung der EU-Kleinanlegerstrategie Ende Mai nun die Frage diskutiert, ob diese beim Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten ein Provisionsverbot für Versicherungsmakler vorsieht. Perschkes Eindruck ist, dass die politische Grundsatzdiskussion „Provisionsverbot ja oder nein“ für die Gewinnung von Nachwuchskräften eher keine Rolle spielt. „Diese komplexe Diskussion der Branche haben Neueinsteiger meist noch gar nicht im Blick“, sagt er. Relevanter für diese Zielgruppe sei eher die Frage, ob man als junger Mensch gleich von Beginn an bereit und in der Lage ist, sich eine Selbstständigkeit auf Basis eines Handelsvertretervertrages aufzubauen. „Die klare Mehrheit junger Menschen sucht zunächst den Weg in eine Berufsperspektive über eine geordnete Qualifizierung (Ausbildung oder Studium) mit fester Grundvergütung. Darauf sollte auch der Finanzvertrieb stärker setzen, da es über den Seiteneinstieg per Sachkundequalifizierung zukünft-läöig immer schwerer werden wird, ausreichend junge Leute für die Branche zu begeistern“, so Perschke.

Selbstbewusst trotz Konkurrenz

Die Ausbildungsquote bei Versicherungen und Banken liegt nach Angaben von Going Public seit einigen Jahren bei vier bis sieben Prozent. Weniger als ein Fünftel davon wird in Maklerbetrieben oder Agenturen ausgebildet – in diesen Fällen oft zum Kaufmann für Versicherungen und Finanzen oder zur Kauffrau für Büromanagement. Die geringe Ausbildungsquote bei Vermittlern ist laut Perschke darin begründet, dass bisher stark auf die Gewinnung von Mitarbeitern aus dem Markt gesetzt wurde – insbesondere von Banken und Versicherern. „Aus den oben genannten Gründen wird das aber immer schwieriger und aufgrund des entspannten Arbeitsmarktes tendenziell auch teurer. Deshalb empfehlen wir Beratungs- und Vertriebsunternehmen, sich stärker eigene Ausbildungswege aufzubauen bzw. dafür Ausbildungspartner zu suchen, wie zum Beispiel unsere Akademie.“

Der favorisierte Weg zur Gewinnung motivierter junger Leute sollte das eigene Netzwerk sein, sagt Perschke: Mitarbeiter, Kunden, Umfeld. „Sinn macht es auch, regionale Einrichtung wie Schulen und Arbeitsagenturen anzusprechen und Praktika oder andere Kennenlern-Möglichkeiten zu bieten. Bei streuenden Suchwegen wie Anzeigen, Messen und dergleichen ist der Vermittler meist so stark im Wettbewerb zu größeren Unternehmen, dass sich das nicht lohnt, weil man finanziell und in der Professionalität dort meist nicht mithalten kann.“

Und was ist mit den Universitäten? Laut Dr. Michael Groß, Schwimm-Olympiasieger und heute als Unternehmensberater tätig, gilt bei vielen Absolventen der Wirtschaftswissenschaften mittlerweile das Motto: „Wenn schon Finanzbranche, dann Fintech“. Der Beruf der Finanzvermittler sei bei den Berufswünschen der jüngeren Generation völlig unterrepräsentiert. „Ich sehr das bei meinen Studenten im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich: Dort will niemand mehr in dieser Branche arbeiten. Sie wollen nicht in ein Berufsfeld einsteigen, das es möglicherweise in 40 Jahren nicht mehr gibt. In der Finanzdienstleistungsbranche sollte man deshalb schon jetzt schauen, in welche Richtung man sich weiterentwickeln kann – nicht positionsmäßig, sondern fachlich-inhaltlich“, rät er. Groß warnt aber auch davor, die Arbeit bei einem Fintech zu unterschätzen: „Beim Thema Fintechs vergessen viele, worauf sie sich einlassen. Ein Fintech bedeutet, dass Leben und Arbeiten eins werden. Und es bedeutet: Gambling. Der ganze Einsatz kann umsonst sein, wenn das Fintech scheitert, was eher die Regel ist.“ Das sei vielen nicht bewusst.

Die Finanzvertriebe zeigen sich angesichts der Konkurrenz um die besten Nachwuchskräfte selbstbewusst. „Es ist wahr, dass Fin- und Insurtechs bei jungen Talenten an Beliebtheit gewinnen. Aber bei Bonnfinanz haben wir eine Brücke zwischen der bewährten Tradition des Finanzvertriebs und der modernen Technologiewelt geschlagen“, erklärt Geschäftsführer Sebastian Wallusch. „Dies macht uns attraktiv für Absolventen, die das Beste aus beiden Welten suchen.“

Unterschiedliche Typen gefragt

Er habe nicht die Erfahrung gemacht, dass es Absolventen mittlerweile eher zu Fin- und Insurtechs zieht, sagt Dr. Matthias Wald, Leiter Vertrieb bei Swiss Life Deutschland. „Im Gegenteil, wir wachsen seit einigen Jahren kontinuierlich, was auch daran liegt, dass wir auf die sogenannte ‚phygitale Beratung‘ setzen“, sagt er. Das bedeutet: „Beratungen können vor Ort bei den Kundinnen und Kunden, an einem unserer bundesweit über 770 Beratungsstandorte oder auch komplett digital stattfinden. Unsere Berater und ihre Kunden entscheiden selbst, wie die Beratung stattfinden soll. Wir unterstützen zentralseitig mit entsprechenden Plattformen, die beispielsweise den gesamten Beratungsprozess vom Erstgespräch bis zur Vertragsunterzeichnung per eSignatur ermöglichen.“

Hinzu kommt laut Perschke, dass im klassischen Finanzvertrieb und bei den Fintechs häufig ganz unterschiedliche Typen gebraucht werden. „Im Finanzvertrieb werden vor allem junge Leute benötigt, die Spaß am Umgang mit anderen Menschen haben und ihren Fokus in der Berufstätigkeit vor allem im persönlichen Kontakt und Austausch mit Kunden sehen. Dies sind wiederum keine Kernanforderungen, die man für eine Karriere in IT-basierten Unternehmen braucht“, sagt er. „Insofern suchen Finanzvertriebe auf der einen Seite und Fin- und Insurtechs auf der anderen Seite im Kern andere Typen von Mitarbeitern.“

Und das tun sie zunehmend auch auf Linkedin, Instagram & Co. „Dass die Finanzberatung ein attraktives Berufsfeld und interessante Karrieremöglichkeiten bietet, möchten wir auch dort platzieren, wo sich vor allem junge Menschen aufhalten“, erklärt Wald. Deshalb mache Swiss Life in den sozialen Medien auf die vielfältigen beruflichen Möglichkeiten in der Finanzberatung aufmerksam. Bei Bonnfinanz ist es ähnlich: „Social Media ist ein entscheidendes Instrument in unserem Rekrutierungsprozess. Wir nutzen es intensiv, um die richtigen Talente für unser Unternehmen zu gewinnen. Es ermöglicht uns, gezielt und effizient im Wettbewerb um die besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu agieren“, sagt Wallusch. Social Media sei elementar, um junge Talente dort abzuholen und anzusprechen, wo sie sich beruflich und privat zu Hause fühlen.

Voraussetzung sei aber, dass man als Unternehmen ausreichend Kapazitäten dafür hat, professionelle Auftritte in den relevanten Social-Media-Kanälen zu erzeugen, warnt Perschke. Da man in diesem Medien mit großen Arbeitgebern und deren Marketing-Ressourcen konkurriere, könne man Auftritte dort nicht nebenbei steuern. „Es braucht ein klares Konzept, um die eigene Zielstellung des Auftritts auch gut umsetzen zu können. Spätestens im zweiten Schritt – und besser im ersten Schritt, wenn man keine ausreichenden Social-Media-Kapazitäten aufwenden kann – sollte man durch den persönlichen Auftritt als Unternehmen überzeugen.“ Denn nichts ramponiert das eigene Image heutzutage mehr als ein schlechter Social-Media-Auftritt.

Kim Brodtmann, Cash.

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