Die Exekutivdirektorin der Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht bei der BaFin, Julia Wiens, hat beim Handelsblatt Strategiemeeting Lebensversicherung einen umfassenden Überblick zur Lage der Branche gegeben. Im Zentrum ihrer Rede standen die wirtschaftliche Stabilität der Unternehmen, Fragen des Kundennutzens sowie die Folgen technologischer und regulatorischer Veränderungen.
Die Bruttobeitragseinnahmen der Lebensversicherer stiegen 2024 um rund drei Prozent. Während das Neugeschäft gegen Einmalbetrag zunahm, blieben laufende Beitragseinnahmen konstant. Klassische Lebens- und Rentenversicherungen verzeichneten erneut Rückgänge, während fondsgebundene Produkte an Bedeutung gewannen. Rund zwei Drittel des Neugeschäfts entfielen zuletzt auf Hybridprodukte.
Die Solvenzlage zeigte sich stabil. Zwar stiegen im ersten Halbjahr 2025 die stillen Lasten auf neun Prozent der Kapitalanlagen, doch konnten alle Unternehmen ihre Solvenzkapitalanforderungen erfüllen, so Wiens. Die BaFin sieht die Risikotragfähigkeit als robust an, verweist aber auf die Volatilität der Kapitalmärkte und die Notwendigkeit langfristiger Stabilitätspuffer.
Kundennutzen und Wohlverhaltensaufsicht
Neben der finanziellen Lage rückt die Aufsicht zunehmend die Produktqualität in den Vordergrund. „Kapitalbildende Lebensversicherungen müssen einen angemessenen Kundennutzen bieten“, betont Wiens. Dabei gehe es sowohl um die Ansparphase als auch um die Rentenphase.
Ein besonderes Augenmerk legt die BaFin auf Stornoquoten und Zielmarktdefinitionen. Angesichts einer jährlichen Stornoquote von 3,5 Prozent in fondsgebundenen Produkten müssten Versicherer ihre Renditeziele realistisch gestalten. Zu breit definierte Zielmärkte, die von Studierenden bis zu Ruheständlern reichen, seien kritisch zu hinterfragen.
Zudem kritisierte Wiens, dass manche Unternehmen bei Aktienfonds nur zwei Prozent Renditeziel ansetzen – auf Höhe der Inflation. Bei Effektivkosten von vier Prozent müssten solche Produkte vor Kosten sechs Prozent erzielen, um das Ziel zu erreichen. „In solchen Fällen wäre es besser, einmal über die Höhe der Kosten nachzudenken“, so Wiens.
Technologischer Wandel und KI-Risiken
Auch die IT-Infrastruktur und der Umgang mit Künstlicher Intelligenz standen im Fokus. Die BaFin erwartet, dass Versicherer veraltete Systeme modernisieren und die IT-Sicherheit stärken. Projekte seien zwar aufwendig und teuer, aber unverzichtbar für die Wettbewerbsfähigkeit.
Mit Blick auf KI betont Wiens die Chancen, aber auch die Risiken. Unternehmen nutzten generative KI bislang vor allem für interne Prozesse. Zukünftig werde sie aber auch in kritischen Bereichen eingesetzt. Deshalb sei ein angemessenes Modellrisikomanagement entscheidend. „Wichtig ist, dass Unternehmen für all ihre KI-Systeme eine adäquate Governance und ein adäquates Risikomanagement haben“, so Wiens.
Die neue europäische KI-Verordnung werde zusätzliche Anforderungen bringen. Wiens, die seit Juli 2025 das Digital Finance Steering Committee der Eiopa leitet, kündigte an, offene Fragen zur Integration der Verordnung in bestehende Regulierungen wie Solvency II oder DORA zu klären.
Solvency-II-Review und Proportionalität
Ein weiterer Schwerpunkt der Rede war der laufende Solvency-II-Review. Ziel sei es, die Risikosensitivität der Kapitalanforderungen zu erhöhen und eine stärkere Proportionalität sicherzustellen. Wiens warnte vor einer Verwässerung der Anforderungen: „Eine Aufweichung der Kapitalanforderungen würde ein fatales Signal senden.“
Die BaFin begrüßt, dass kleinere und weniger komplexe Unternehmen künftig von Erleichterungen profitieren können. Ab 2027 sollen diese beispielsweise den ORSA-Bericht nur noch alle zwei Jahre und den RSR nur noch alle drei Jahre einreichen müssen. Auch Erleichterungen ohne formale Genehmigung bleiben möglich, sofern das Risikoprofil dies erlaubt.
Die Anpassungen sollen den vielfältigen Strukturen des deutschen Versicherungsmarkts Rechnung tragen. Gleichzeitig unterstrich Wiens, dass prinzipienbasierte Aufsicht mehr Austausch erfordert: Unternehmen sollten frühzeitig das Gespräch mit der Aufsicht suchen, um Spielräume zu nutzen.
Insgesamt zeigt sich die Branche laut Wiens wirtschaftlich solide. Doch die eigentlichen Herausforderungen liegen im Umgang mit Kundennutzen, Technologie und Regulierung, so die Exekutivdirektion der BaFin. „Die Welt ist in Bewegung, und ein Unternehmen, das sich mit seinen bisherigen Errungenschaften zufrieden gibt, fällt schnell zurück“, zitierte sie Kodak-Gründer George Eastman und appellierte deutlich an die Versicherer, den Wandel aktiv zu gestalten.