EXKLUSIV

„Value for Money“: So verändert sich die deutsche Altersvorsorge

Joachim Kaeß, Morgen & Morgen
Foto: Morgen & Morgen
Joachim Kaeß: "Value for Money ist ein Hebel für Qualität, Transparenz und Kundennähe."

Die BaFin macht ernst. Lange Zeit war die deutsche Lebensversicherungsbranche auf Produktebene durch vergleichsweise milde Regulierungsmaßnahmen geprägt. Nun steht ein Paradigmenwechsel bevor. Von Joachim Kaeß.

Mit dem „Value for Money“-Ansatz wird aus regulatorischem Druck eine richtungsweisende Chance: Versicherer sind gefordert, ihre Produkte auf tatsächlichen Kundennutzen zu prüfen und erhalten zugleich die Möglichkeit, Beratung, Produktentwicklung und Marktpositionierung zukunftsgerichtet neu zu denken.

Europa als Taktgeber – Deutschland zieht nach

Was im angloamerikanischen Raum verwurzelt und in Großbritannien, Irland oder den Niederlanden längst gelebte Praxis ist, nimmt in Deutschland Gestalt an. Versicherer müssen nachweisen, dass ihre Produkte dem Kunden einen angemessenen, nachvollziehbaren Mehrwert liefern – kurz: „Value for Money“. Die Grundlage dafür ist kein nationaler Alleingang, sondern ein europäischer Regulierungsrahmen: Die Delegierte Verordnung zu Product Oversight and Governance (POG) aus dem Jahr 2017, entstanden im Rahmen der Insurance Distribution Directive (IDD), verpflichtet Versicherer und Vermittler gemeinsam und auf Grundlage klar definierter Verantwortlichkeiten im besten Interesse ihrer Kunden zu handeln.


Das könnte Sie auch interessieren:

Spätestens mit dem Supervisory Statement der Europäischen Aufsichtsbehörde EIOPA von 2021 wird klar: Die strukturierte Bewertung von Kosten, Komplexität, Zielmarkt und Produkttests gehört zum Herzstück einer fairen und transparenten Produktpolitik. Mit dem Merkblatt 01/2023 (VA) legt die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin erstmals detailliert für Deutschland dar, wie sie das Verhältnis von Nutzen und Kosten bei kapitalbildenden Lebensversicherungsprodukten bewertet.

Die neue Regulierungslogik: Kundennutzen im Zentrum

Die Lage ist ernst: Die gesetzliche Rente verliert an Halt, die betriebliche Vorsorge erreicht nur eine Minderheit, und viele Selbstständige bleiben unversichert. Parallel bröckelt das Vertrauen in die klassischen Anbieter von Altersvorsorgelösungen. Hier setzt die BaFin an – mit einem klaren Auftrag: Versicherer müssen beweisen, dass ihre Produkte verbraucherfreundlich und zielgerichtet sind, indem sie die Kosten-Nutzen-Bilanz zielgruppenspezifisch offenlegen. Sie müssen klar definieren, für wen ein Produkt geeignet ist – und diese Information lückenlos an den Vertrieb weitergeben.

Die Verantwortung umfasst den gesamten Produktlebenszyklus – von der Entwicklung bis zum Vertrieb und darüber hinaus. Produktkonformität beinhaltet seit 2017 die fundierte Prüfung des Kundennutzens, der jetzt verschärft in den Fokus der Aufsichtsbehörde rückt. Dabei geht es um mehr als Transparenz: Die Maßgabe „Value for Money“ ist Ausdruck eines neuen aufsichtsrechtlichen Selbstverständnisses. Versicherer sollen Verantwortung für die Qualität ihrer Angebote übernehmen.

Die neue Rollenverteilung: Versicherer und Vermittler als Verbraucherschützer

Im Zentrum des Regulierungsrahmens steht die Verantwortungsteilung zwischen Versicherer und Vermittler. Versicherer müssen geeignete Zielmärkte definieren, die passenden Vertriebskanäle auswählen, den Vermittlern umfassende Informationen zu Produkten, Risiken, Kosten und Zielmärkten zur Verfügung stellen und überwachen, ob ihre Produkte korrekt vertrieben werden – inklusive der Pflicht zu Abhilfemaßnahmen. Vermittler wiederum sind verpflichtet, die Produktinformationen einzuholen und korrekt zu verarbeiten, die vorgegebenen Zielmärkte einzuhalten und der Rückmeldepflicht nachzukommen, sollten sie im Vertrieb Missstände erkennen. So entsteht ein System, das nicht nur formale Vorgaben regelt, sondern aktiven Verbraucherschutz durch Marktteilnehmer institutionalisiert.

Die neue Währung: Quantitativer Kundennutzen

Zentraler Baustein der „Value for Money“-Prüfung ist die Ermittlung einer quantitativen Produktinformation, die auf einer definierten, mathematisch fundierten Methode basiert. Anders als die bekannten statischen Hochrechnungen zielt diese auf eine realitätsnahe und reproduzierbare Bewertung des Chance-Risiko-Profils eines Produkts ab. Die BaFin fordert, dass Kunden in Zielmärkte unterteilt werden, die sich insbesondere durch Renditeerwartungen und Risikobereitschaften unterscheiden. Produkte sind anhand ihres simulierten Chance-Risiko-Profils einem passenden Zielmarkt zuzuordnen.

Ein Produkt gilt dann als nutzenstiftend, wenn es für diesen Zielmarkt ein angemessenes Renditeziel mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erreicht. Diese Bewertung ist nur über eine stochastische Simulation möglich, die komplexe Produkte realistisch analysiert und das Chance-Risiko-Profil belastbar abbildet. Genau deshalb macht die BaFin diese Methode zur verbindlichen Grundlage für die Bereitstellung quantitativer Produktinformationen.

Die Mathematik hinter dem Kundennutzen

Bei einer stochastischen Simulation wird ein Produkt über zehntausend repräsentative Kapitalmarktszenarien gerechnet. Das Ergebnis ist eine Wahrscheinlichkeitsverteilung möglicher Renditen, die das gesamte Ertragsspektrum sichtbar macht – inklusive der Wirkweise von Garantien, Überschussbeteiligungen und Kosten. Kein Produktmechanismus bleibt verborgen. Diese Methode ermöglicht ein präzises, objektives und reproduzierbares Profiling von Produkten – eine neue Qualität der Transparenz für Kunden, Vermittler und Aufsicht.

Für Vermittler bedeutet das: Statt sich auf wenig belastbare Beispielrechnungen zu stützen, können sie realistische und nachvollziehbare Aussagen über Chancen und Risiken treffen. Die Simulation zeigt, wie sich ein Produkt in unterschiedlichen Marktsituationen entwickeln kann – also zum Beispiel in guten, durchschnittlichen und schlechten Börsenjahren. Kunden erhalten ein ehrliches, differenziertes Bild dessen, was sie erwarten können – inklusive möglicher Schwankungen, Kostenwirkungen und dem konkreten Nutzen von Garantien. Das stärkt Vertrauen, hebt die Beratungsqualität und erleichtert die Auswahl geeigneter Produkte.

Vermittler gewinnen Argumentationssicherheit – auch gegenüber regulatorischen Anforderungen. Morgen & Morgen bietet seit über 15 Jahren stochastische Simulationen für die Praxis. Seitdem wird der Volatium Standard kontinuierlich weiterentwickelt und kommt nicht nur als Rendite-Index in der Vergleichssoftware M&M Office, sondern auch bei zahlreichen Versicherern zum Einsatz. Zur Unterstützung des Vertriebs, in der Produktentwicklung und zur Erfüllung regulatorischer Anforderungen im Sinne der Wohlverhaltenspflichten. Auch mit der BaFin stehen wir hierzu im fachlichen Austausch.

Mystery-Shopping-Initiative: Aufsicht verstärkt Druck

Die BaFin meint es ernst: 2024 wurden bereits 13 Lebensversicherer einer umfassenden Wohlverhaltensprüfung unterzogen. Im Fokus standen unter anderem hohe Stornoquoten, Effektivkosten, Rückvergütungen und die reale Wertentwicklung – insbesondere bei fondsgebundenen Produkten. Für 2025 sind weitere Prüfungen geplant. In der Praxis zeigte sich bereits: Bei unzureichendem Kundennutzen wurden Vertriebsverbote verhängt, auch Maßnahmen gegen Vorstände sind kein Tabu.

Besonderes Augenmerk legte die BaFin aktuell mit ihrer Mystery-Shopping-Initiative darauf, wie Beratungsgespräche tatsächlich ablaufen: In Testkäufen wurden Defizite bei der Eignungsprüfung, der Dokumentation und der Passgenauigkeit der Produkte festgestellt. Langfristig plant die BaFin, diese Aufsichtspraxis auch auf andere Versicherungssparten auszuweiten. Frühwarnsysteme, datengetriebene Analysen und neue Berichtspflichten sollen helfen, Schwächen frühzeitig zu erkennen – nicht erst bei Verstößen.

„Value for Money“: Vom Aufsichtsdruck zur strategischen Chance

Was zunächst wie eine regulatorische Verschärfung erscheint, zeigt sich bei genauerer Betrachtung als strategische Gestaltungschance. „Value for Money“ ist weit mehr als ein technisches Aufsichtskriterium – es ist ein Hebel für Qualität, Transparenz und Kundennähe. Versicherer, die ihre Produkte simulationsbasiert analysieren, dokumentieren und transparent kommunizieren, schaffen die Grundlage für ein neues Selbstverständnis.

Nicht nur als Anbieter, sondern als verantwortungsvolle Partner einer zukunftssicheren Altersvorsorge. Die neue Aufsichtspraxis ist kein Hemmschuh, sondern ein Impulsgeber für Innovation. Sie lädt dazu ein, vom Reagieren ins Gestalten zu kommen – für eine moderne, glaubwürdige und tragfähige Altersvorsorge in Deutschland.

Autor Joachim Kaeß ist Fachreferent für Mathematische Finanzmodelle beim Analyse- und Ratinghaus Morgen & Morgen, Rüsselsheim.

Weitere Artikel
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments