ESG-Pflichten im Vertrieb: „Die Kunden müssen selbst die Vorgaben machen“

Dr. Christian Reibis, Baker Tilly
Foto: Florian Sonntag
Dr. Christian Reibis, Baker Tilly: "Die Anforderungen der EU Taxonomie sind sehr hoch."

Auch der Vertrieb von Sachwertanlagen muss künftig die Nachhaltigkeit der Produkte und die Präferenzen der Kunden berücksichtigen. Cash. fragte Dr. Christian Reibis, Partner, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater bei Baker Tilly, was ab August 2022 auf die Finanzdienstleister zukommt.

Welche Vorschriften für die Pflichten des Vertriebs in Bezug auf die Themen Umwelt (Environment), Soziales (Social) und Unternehmensführung (Governance), kurz ESG, gibt es beziehungsweise wurden schon beschlossen?

Reibis: Grundpfeiler der ESG-Regulierung ist der im März 2018 von der EU-Kommission beschlossene Aktionsplan zur Förderung des nachhaltigen Wachstums. Das Ziel des Plans ist, auf dem Finanzmarkt Kapital für nachhaltige Investitionen zu mobilisieren und die Kapitalströme in nachhaltige Projekte zu lenken. Zu den Maßnahmen des Plans zählt die Einführung einer EU Taxonomie-Verordnung mit Kriterien und Maßstäben für Nachhaltigkeit, die Ausweitung der Berichterstattungspflichten über ESG durch die EU Offenlegungsverordnung sowie die Aufnahme von Nachhaltigkeit in die Anlageberatung. Zu dem letzten Punkt hat die EU Kommission im April 2021 Änderungen der Delegierten Rechtsakte unter MiFID II, also der Level-2-Verordnung zur Finanzmarktrichtlinie MiFID II, veröffentlicht. Diese Änderungen sehen eine Einbeziehung von Nachhaltigkeitspräferenzen der Anleger in die Anlageberatung vor. Die Änderungen treten am 2. August 2022 in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt müssen Finanzberater bei der Anlageberatung zwingend die Nachhaltigkeitspräferenzen der Kunden abfragen. Im Rahmen der Geeignetheitsprüfung müssen sie dann prüfen, bei welchen Finanzprodukten der Zielmarkt den Nachhaltigkeitspräferenzen des Kunden entspricht.

Wie soll die Prüfung konkret umgesetzt werden?

Reibis: Wenn ein Kunde die Frage nach Nachhaltigkeitspräferenzen bejaht, kommen für die Anlage nur noch die drei Produktkategorien mit ESG-Merkmalen in Frage. Nach der geänderten Level-2-Verordnung fallen unter die erste Kategorie Finanzinstrumente, bei denen der Kunde bestimmt, dass ein Mindestanteil in ökologisch nachhaltige Investitionen im Sinne der EU Taxonomie angelegt werden soll. Kategorie 2 umfasst Finanzinstrumente, bei denen der Kunde bestimmt, dass ein Mindestanteil in nachhaltige Investitionen nach der EU Offenlegungsverordnung angelegt werden soll. In die dritte Kategorie fallen Finanzinstrumente, bei denen die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigt werden, wobei der Kunde oder potenzielle Kunde die qualitativen oder quantitativen Elemente bestimmt, mit denen diese Berücksichtigung nachgewiesen wird.

Welche Rolle spielt die EU Taxonomie?

Reibis: Die Anforderungen der EU Taxonomie sind sehr hoch, bei Immobilienfonds zur Konformität mit dem Umweltziel Klimaschutz zum Beispiel bezüglich des Primärenergiebedarfs des Gebäudes. Zusätzlich dürfen keine anderen Umweltziele der EU Taxonomie wie zum Beispiel Schutz der Wasserressourcen, Abfallvermeidung oder Schutz der Ökosysteme wesentlich verletzt werden („Do not significantly harm“). Hierdurch ergeben sich weitere Vorgaben zum Beispiel hinsichtlich des maximalen Wasserverbrauchs, der Recyclebarkeit der verwendeten Baustoffe oder des Mindestanteils von Grünflächen an den Außenanlagen. Aufgrund dieser strengen Vorgaben und auch der dafür erforderlichen Nachweispflichten ist es fraglich, ob es bereits in naher Zukunft im Fondsbereich viele taxonomiekonforme Produkte, also Fonds der Kategorie 1, geben wird.

Unter welchen Voraussetzungen schafft ein Produkt es wenigstens in Kategorie 2?

Reibis: Die unter Kategorie 2 fallenden Produkte müssen einen bestimmten Teil ihrer Investitionen in Anlageobjekte tätigen, die als nachhaltige Investitionen im Sinne der EU Offenlegungsverordnung gelten. Danach ist eine nachhaltige Investition definiert als Investition in eine wirtschaftliche Tätigkeit, die zur Erreichung eines Umweltziels oder eines sozialen Ziels beiträgt, wobei wiederum kein anderes Ziel erheblich beeinträchtigt werden darf. Eine Bemessung der Nachhaltigkeit an den Vorgaben der EU Taxonomie-Verordnung ist dabei nicht vorgesehen.

Woran soll sich der Vertrieb in Bezug auf die Kategorie 2 stattdessen orientieren?

Reibis: Welche Anforderungen genau an diese nachhaltigen Investitionen zu stellen sind, ist noch immer offen. Zwar gibt es Verlautbarungen der BaFin zum Thema ESG, wie zum Beispiel das Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken. Konkrete Kriterien für nachhaltige Investitionen nach der EU Offenlegungsverordnung sind darin aber nicht enthalten. Aufgrund der relativ hohen Anforderungen an die Kategorien 1 und 2 werden viele ESG-orientierte Fonds nur über die Kategorie 3 die Voraussetzungen für ein nachhaltiges Produkt nach der Level-2-Verordnung unter MiFID II erfüllen können.

Sind wenigstens die Maßstäbe für diese Kategorie eindeutig?

Reibis: Das lässt sich aus heutiger Sicht nicht bejahen. Unter die Kategorie 3 fallen Produkte, bei denen die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren oder englisch „Principal adverse impact indicators“, kurz PAI, berücksichtigt werden. Das bedeutet, dass bestimmte Indikatoren im Rahmen einer ESG-Strategie für das jeweilige Produkt beachtet werden. Der Entwurf der Level-2-Verordnung zur EU Offenlegungsverordnung enthält eine Reihe von Beispielen für mögliche PAI. Als Pflichtindikatoren im Immobilienbereich werden der Anteil der Immobilien, die in den fossilen Brennstoffsektor involviert sind und der Anteil der nicht energieeffizienten Immobilien – EPC-Rating C oder schlechter – vorgegeben. Darüber hinaus muss jeweils mindestens ein weiterer PAI aus den Bereichen Umwelt und Soziales berücksichtigt werden. Über die Pflichtindikatoren hinaus können für jedes Produkt beliebige weitere PAI hinzugezogen werden. Bei Immobilienfonds kommen im Bereich Umwelt zum Beispiel folgende PAI in Betracht: Die Höhe der Treib­hausgasemissionen, der Energieverbrauch, der Anteil von Immobilien ohne Mülltrennung und ohne Vertrag zu Recycling/Müllverwertung oder der Anteil der nicht bepflanzten Flächen der Immobilien. Im Bereich Soziales kann zum Beispiel der Anteil barrierefreier Immobilien oder der Anteil an Sozialwohnungen einbezogen werden. Dabei reicht eine Messung der PAI allein nicht aus. Es muss hier auch eine Strategie zur Verbesserung der Werte verfolgt werden.

Das klingt reichlich kompliziert.

Reibis: Die korrekte Einstufung wird auch dadurch erschwert, dass die Kategorien unter MiFID II nicht der Differenzierung nach den Artikeln 8 und 9 der Offenlegungsverordnung entsprechen, die sonst vielfach vorgenommen wird. Vielmehr sind insbesondere in Bezug auf die PAI Kriterien und Maßstäbe erforderlich, die nicht unmittelbar mit der Offenlegungsverordnung und der Taxonomie verzahnt sind.

Kann der Vertrieb noch Hilfestellung erwarten?

Reibis: Zur besseren Quantifizierung der Nachhaltigkeit von Immobilien wurde die Initiative „ESG-Circle of Real Estate“, kurz ECORE, gegründet. Der Initiative gehören rund 120 Mitglieder aus der Immobilienwirtschaft an. Ziel ist die Entwicklung eines einheitlichen ESG-Scoring-Modells mit einer Skala von null bis 100, das Nachhaltigkeit in Immobilienportfolios für Anleger und weitere Stakeholder transparent, messbar und vergleichbar machen soll. Dabei werden verschiedene Kriterien aus den Bereichen Governance, Verbräuche und Emissionen einbezogen.

Wie kann der Vertrieb sich schon vorbereiten?

Reibis: Für den Vertrieb ist es trotz der bestehenden Unsicherheiten von hoher Bedeutung, sich frühzeitig mit den Anforderungen nach MiFID II und der ESG-Regulierung intensiv auseinanderzusetzen. Nur so wird er den zukünftigen Anforderungen durch die Einbeziehung der Nachhaltigkeitspräferenzen in die Anlageberatung gewachsen sein und kann die Kunden entsprechend aufklären. Wie konkret der ESG-Abgleich in der Anlageberatung aussehen wird, ist aber noch unklar. In der Level-2-Verordnung fehlen hierzu konkrete Angaben. Hilfestellung bietet der kürzlich von der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA veröffentlichte Entwurf überarbeiteter MiFID-II-Guidelines zum Geeignetheitstest in der Anlageberatung. Darin sind auch Vorgaben zur Berücksichtigung der Nachhaltigkeitspräferenzen enthalten. Die Anlageberater müssen den Kunden danach zunächst umfassend und verständlich das Konzept der Nachhaltigkeitspräferenzen erklären. Danach werden die Kunden detailliert nach ihren Nachhaltigkeitspräferenzen befragt. Dabei ist dann auch abzufragen, ob – und wenn ja, in welchem Umfang – der Kunde nachhaltige Präferenzen in Bezug auf die Kategorien 1 bis 3 hat. Die Kunden müssen hierbei selbst die Vorgaben zu den genauen Nachhatigkeitspräferenzen machen. So müssen sie bei den Kategorien 1 und 2 selbst den Mindestanteil bestimmen, der in nachhaltige Investitionen beziehungsweise in Investitionen im Sinne der EU Taxonomie angelegt wird. Bei den Produkten der Kategorie 3 müssen sie die qualitativen oder quantitativen Elemente, mit denen die Berücksichtigung der PAI nachgewiesen werden, selbst bestimmen. Hier sollte dann ein möglicher Schwerpunkt des Kunden auf Umwelt-, Sozial- oder Governance-Aspekten abgefragt werden oder der Kunde kann auch direkt nach möglichen PAI befragt werden, die ihm wichtig sind (z.B. Reduzierung CO2-Ausstoß, Energieverbrauch, Abfall oder Wasserverbrauch). Daher kann es für Fondsanbieter ratsam sein, eine breitere Auswahl an PAI auf Produktebene zu berücksichtigen, um für Kunden mit unterschiedlichen Präferenzen bezüglich der PAI geeignet zu sein.

Was passiert, wenn die Kundenpräferenzen zu keinem Produkt passen?

Reibis: Wie die Berücksichtigung der Präferenzen der Kunden in der Praxis des Vertriebs genau aussehen wird, ist ungewiss. Die Formulierungen hierzu in der Level-2-Verordnung sind nur sehr allgemein gefasst. Es dürfte zu erwarten sein, dass eher wenige Kunden solch intensive Kenntnisse über Nachhaltigkeitspräferenzen und die entsprechenden Produktanforderungen nach MiFID II haben, um bei der Anlageberatung von sich aus konkrete Vorgaben zu den Nachhaltigkeitsanforderungen an die Produkte zu machen. Hier werden die Anlageberater bei den Kunden sehr viel Aufklärungsarbeit leisten müssen. Entspricht kein Finanzinstrument den Nachhaltigkeitspräferenzen des Kunden, so ist es nach der Level-2-Verordnung auch möglich, dass der Kunde seine Nachhaltigkeitspräferenzen anpasst. Diese Kundenentscheidung muss aber einschließlich ihrer Begründung von dem Berater aufgezeichnet werden.

Die Fragen stellte Stefan Löwer, Cash.

Dieses Interview ist zuerst in der Cash.-Ausgabe 5/2022 erschienen. Es gibt den Stand Anfang April 2022 wieder.

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