Abgesang auf Boris Johnson könnte zu früh kommen

Der britische Supreme Court hat dem Premier eine schallende politische Ohrfeige verpasst. Auch wenn die weiteren konkreten Schritte völlig offen sind, ist mit den Entwicklungen der letzten Tage die Wahrscheinlichkeit einer Verschiebung des Austrittstermins über den Oktober hinaus gestiegen. Allerdings könnte der Abgesang auf Boris Johnson zu früh kommen. Und auch die Gefahr eines ungeregelten Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union ist noch lange nicht gebannt.

Marco Weber, Union Investment: „Die Gefahr eines ungeordneten EU-Austritts ist keineswegs gebannt.“

Ungläubig dürften die meisten Kontinentaleuropäer die jüngsten Ereignisse in London beobachtet haben. In wenigen Wochen, am 31. Oktober, endet abermals die Frist für die britische Regierung, eine tragfähige Lösung für einen geordneten Austritt aus der Europäischen Union (EU) vorzulegen. Doch anstatt konzentriert nach einem Ausweg aus der verfahrenen Situation zu suchen, ist die Johnson-Administration mit einem Tsunami an sich überschlagenden Ereignissen konfrontiert.

Schallende juristische Ohrfeige für Johnson

Nach den letzten Wochen, in denen die Konventionen der britischen Politik auf eine harte Probe gestellt wurden, ist für Johnson erstmal Wunden lecken angesagt. Man muss sich vor Augen führen: Nicht nur musste Johnson im Unterhaus krachende Niederlagen einstecken und den Verlust seiner Parlamentsmehrheit verkraften – das oberste britische Gericht hat auch noch Johnsons politischen Kurs einen Riegel vorgeschoben. Einstimmig hat der Supreme Court die Aussetzung des britischen Parlamentes für unrechtmäßig erklärt. Und dennoch wird Johnson nicht müde, mit einem ungeordneten Brexit zu kokettieren. Verrennt sich der Premier hier etwa?

Gesetz soll ungeregelten Austritt verhindern

Nicht unbedingt, denn sowohl innen- als auch außenpolitisch gibt es aus seiner Sicht gute Gründe für eine harte Linie. Kurz vor der Zwangspause setzte sich das britische Unterhaus gegen Johnson durch und verabschiedete ein Gesetz zur Verhinderung eines ungeregelten Austritts des Vereinigten Königreiches aus der EU. Konkret verpflichtet es den Premier dazu, die EU um eine weitere Verlängerung der Austrittsfrist bis zum 31. Januar 2020 zu bitten, wenn das Parlament nicht bis zum 19. Oktober für einen Austrittsvertrag oder einen No-Deal-Brexit stimmt.

Das Datum ist nicht zufällig gewählt, denn für den 17. und 18. Oktober ist ein EU-Gipfel angesetzt, dessen Tagesordnung zentral von der Frage des Brexits geprägt sein wird. Johnson gab danach zu Protokoll, das verabschiedete Gesetz notfalls ignorieren zu wollen: Lieber würde er „tot im Straßengraben liegen“, als Brüssel um eine weitere Verlängerung der Austrittsfrist zu bitten. Mit dieser Aussage wolle er vor allem, den Verhandlungsdruck gegenüber der EU hoch halten.

Denn im Endeffekt ist es nichts anderes als ein klassisches Angsthasenspiel zwischen Großbritannien und der EU, bei dem zwei Sportwagen mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zurasen. Wer zuerst ausweicht verliert. Vor diesem Hintergrund wird die enorme Dimension des Urteils des Supreme Courts deutlich, denn der Schiedsspruch der Londoner Richter schwächt Johnsons Verhandlungsposition in Brüssel erheblich. Oder bildlich gesprochen wurde sein Sportwagen zu einem Roller zurechtgestutzt.

Seite zwei: London liefert keine Alternativen zum Backstop

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