„Flutdemenz auf allen Ebenen“: Zurich stellt Analyse zum Extremwetterereignis „Bernd“ vor

Foto: Joerg Droste, Cash.
Die Ahr fließt wieder ganz beschaulich durch Bad Neunahr. Die Schäden in sind dafür immer noch deutlich zu sehen.

Das Extremwetterereignis „Bernd“ führte zu geschätzten Gesamtschäden von 40 bis 50 Milliarden Euro und mehr als 230 Todesopfern innerhalb einer Woche. Doch wie kann es sein, dass Regenfälle derartige Schäden verursachen oder Warnsysteme teilweise nur unzureichend funktionierten? Die Zurich Gruppe Deutschland hat die Katastrophe analysiert und die Studie und ihre Schlussfolgerungen direkt an Ahr vorgestellt.

Was im letzten Sommer zu den tragischen Ereignissen geführt hat und wie die Städte und Gemeinden in Zukunft mit den Folgen der Flut leben können, hat die Zurich Versicherung in einer umfassenden Analyse vorgestellt. Klar ist: Wer die Katastrophe allein auf ein unvorhersehbares Extremwetterereignis infolge des Klimawandels reduziert, gegen dessen Folgen man machtlos ist, verkennt die komplexe Realität.

Die Studie zeigt, dass ein unzureichendes Hochwasserverständnis, eine problematische Wiederaufbaustruktur sowie ungenügende Maßnahmen zur Risikoreduktion im Vorfeld einen entscheidenden Teil an der Katastrophe tragen. Der PERC-Bericht wurde von Experten des Zurich Flood Resilience Programs, der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), dem Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA), ISET-International (ISET) und der London School of Economics (LSE) erstellt. 

Die Zurich präsentiert die Ergebnisse der Studie vor Ort. Im Bild (v.li.): Bernd O. Engelien, Leiter Unternehmenskommunikation, Horst Nussbaumer, Chief Claims und Operating Officer der Zurich Gruppe Deutschland, Dr. Viktor Rözer, Grand Research Institute on Climate Change and the Enviroment und Michael Szönyi, Leiter des Flood Resilience Programm der Zurich.

Grundlage des bisher umfassendsten Berichtes der Zurich war die Auswertung tausender E-Mails sowie Vor-Ort-Gespräche mit Betroffenen und Einsatzkräften. Aufgrund dessen gibt der Bericht auch Empfehlungen an die politischen Verantwortlichen auf der Ebene von Kommunen, Land und Bund, wie in Zukunft Themen wie Frühwarnungen, Katastrophenschutzstruktur sowie Hochwasserprävention und das Gefahrenbewusstsein in der Bevölkerung besser gestalten werden und somit für mehr Sicherheit sorgen können. „Dass allein 134 Menschen im Ahrtal gestorben sind, ist eine inakzeptable Zahl“, sagt Michael Szönyi, Leiter des Flood Resilience Programm, bei der Zurich.

Ungenaue Vorhersagen und Modellierungen

Während das Extremwetterereignis in seiner Intensität gut vorhergesagt wurde, gab es in Bezug auf das zu erwartende Hochwasser nur für die größeren Flüsse wie Rhein und Mosel treffende Aussagen. Die Situation an den kleineren Flüssen konnte auch nicht annähernd exakt vorhergesagt werden. 

Mayschoss im Kreis Ahrweiler

Die Gründe dafür sind laut Szönyi, Mitautor der Studie, vielfältig: Zu einer ungenügenden Zusammenarbeit zwischen meteorologischen und hydrologischen Vorhersagediensten sowie lokalem Katastrophenschutz – innerhalb und auch zwischen den Bundesländern – komme zudem eine zu geringe Anzahl an Pegelstationen an den betroffenen Flüssen hinzu. Das habe dazu geführt, dass eine Hochwasserprognose noch unzureichend möglich gewesen sein.

Kurz hinter Mayschoss staute sich das Wasser 9,24 hoch

Hinzu komme auch, dass die Genauigkeit von Hochwassermodellen bei weitem nicht ausreiche, so Szöny. Hierzu, so Szöny weiter, müssten Flüsse und Flussprofile wie die Ahr wesentlich genauer vermessen werden.

Erfahrungen in Bebauungsplänen einfließen lassen

Unzureichende Hochwassergefahrenkarten könnten auch in Zukunft zum Problem werden: „Hochwasserkarten und die Ausweisung von Überschwemmungsgebieten dürfen sich nicht nur auf ‚Durchschnittsereignisse‘ beziehen, sondern sollten auch ein maximal mögliches Hochwasser-Szenario enthalten,“ mahnt Horst Nussbaumer, Chief Claims und Operating Officer der Zurich Gruppe Deutschland.

„Mit realistischen Annahmen kann die einschneidendste Hochwasserreaktion, zum Beispiel aufgrund von gesättigten Böden oder Verklausungen, skizziert werden. Dies hilft wiederum bei der Risikoeinschätzung zukünftiger Hochwasserereignisse. Kommunen sollten die Erkenntnisse in Zukunft auch stärker bei der Erstellung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen berücksichtigen“, so Nussbaumer. Die Pläne für den Wiederaufbau im Ahrtal hält Szönyi für nicht ausreichend. So wurden im gesamten Tal über 9.000 Häuser durch das Wasser beschädigt. „Ganze 34 dürfen nicht wieder aufgebaut werden“, sagt Szönyi.

Frühwarnsysteme technisch und inhaltlich unzureichend*

Die aktuellen Frühwarnsysteme wie das modulare Warnsystem MoWaS inklusive der angeschlossenen Dienste wie Katwarn oder die Nina-Warn-App haben entweder keine, zu wenige oder widersprüchliche Informationen geliefert. Die warnenden Sender sowie die Empfänger waren nicht immer ausreichend geschult, um die Möglichkeiten des Systems optimal zu nutzen. Es hätte heißen müssen, lauft um euer Leben, kritisiert Szöny. Das habe keiner gemacht. „Die Warnkette hat nicht funktioniert.“

Push- statt Pull-Nachrichten würden eine stringente Kommunikationskette von den Behörden über die lokalen Einsatzkräfte bis hin zur Bevölkerung sicherstellen. Dazu muss außerdem die Lücke zwischen technischen Meldungen durch Behörden hin zu leicht verständlichen Texten für alle Generationen geschlossen werden. Beim Zusammenbruch des mobilen Internets empfiehlt sich auch der sogenannte „Cell Broadcast“, eine in vielen Ländern bereits etablierte Technologie. 

„Flutdemenz“: „Bernd“ war nicht die historisch größte Katastrophe

„Die Flutkatastrophe wurde von vielen der Betroffenen als ,beispiellos‘ und ,unvorhersehbar‘ beschrieben. Dies ist angesichts der Umstände zwar verständlich, aber auch nachweislich falsch. Aufzeichnungen belegen, dass es im Ahrtal bereits 1804 eine Überschwemmung ähnlicher Größenordnung. Auch 1910 gab es ein Hochwasser, das vorliegende Pegelaufzeichnungen deutlich überschritt“, erklärt Szönyi.

Ein Problem sei, dass Extremwetterereignisse zu schnell in Vergessenheit gerieten. „Das führt möglicherweise dazu, dass beispielsweise weitreichende Hochwasserschutzpläne aus den 1920er Jahren nie umgesetzt wurden. Auch als 2016 das Ahrtal erneut überflutet wurde, wurde von einem Jahrhundertereignis gesprochen, was es in Anbetracht der Historie bei weitem nicht war“, sagt Szöny.

Das Extremwetterereignis „Bernd“ hat über 230 Menschenleben gefordert und Gesamtschäden von 40 bis 50 Milliarden Euro verursacht – versichert waren nach Angaben des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) Schäden im Wert von knapp 8,5 Milliarden Euro.

Nahezu jede Brücke im Ahrtal wurde zerstört

Die Absicherung gegen Naturgefahren lag vor dem Unwetter deutschlandweit bei etwa 46 Prozent. Vor der Juli-Flut verzeichneten die Versicherer zwischen 50.000 bis 100.000 neue Verträge pro Quartal. In den Monaten danach ist die Nachfrage nach Angaben des GDV deutlich nach oben geschnellt. So wurden allein im dritten Quartal 2021, unmittelbar nach der Ahr-Sturzflut, rund 400.000 neue Elementarschadenverträge abgeschlossen.

Heute, bereits knapp ein Jahr nach „Bernd“ bewegt sich die Nachfrage nach Elementarschutzversicherungen bereits auf Vor-Katastrophen-Niveau. „Die Fähigkeit, mit Naturgefahren umzugehen, hat bei der Bevölkerung insgesamt nachgelassen. Das Wissen, dass ein Hochwasser passieren kann und welche Ausmaße es annehmen könnte, muss daher stärker und dauerhaft bei den Menschen verankert werden“, mahnt Szönyi.

Katastrophenschutz lange vernachlässigt

Hochwasser-Gedenktage und visuell auffällige historische Hochwassermarkierungen könnten hier helfen. Auch Schulungen über die Gefährlichkeit solcher Ereignisse und Übungen zur Evakuierung müssten geplant werden, beispielsweise in Schulen. Der Umgang mit Alarmen, insbesondere auch Fehlalarmen, muss wieder eingeübt werden. Der Katastrophenschutz sei hier über fast vier Jahrzehnte vernachlässigt worden und müsse nun wieder deutlich gestärkt werden.

Darüber hinaus gelte es, große Firmen oder Unternehmen in die Vorbereitungen für den Katastrophenschutz miteinzubeziehen. So dienten etwa das Gelände des Nürnburgrings oder Logistikflächen und Hallen der Firma Haribo unmittelbar nach der Flut als Basis für die anlaufenden Hilfemaßnahmen. „Wir müssen überlegen, welche Ressourcen Großfirmen im Falle eines Falles bereitstellen können“, führte der Experte weiter aus.

Bebauungspläne überdenken

Zudem sollen Hochwasserereignisse nicht als „völlig unerwartet“ oder „noch nie dagewesen“ charakterisiert werden. Szönyi warnt: „Die verbale Dramatisierung als singuläres Katastrophenereignis führt zu einer intuitiv falschen Einschätzung der Ereigniswahrscheinlichkeit. Gleichzeitig fokussiert die öffentliche Diskussion oft allein auf den Klimawandel als ursächlich für die Folgen dieser Extremwetterereignisse. Auch das verengt die Betrachtung unzulässig auf nur einen von zahlreichen Aspekten, die am Ende zu diesen Katastrophen führen. Die Prävention gerät aus dem Fokus.“

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