„Neues trauriges Kapitel am Anleihemarkt“

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik liegt die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen bei null Prozent. Damit leihen Anleger dem Bund ihr Geld umsonst. 

Der Anlagenotstand hat sich am Dienstag weiter verschärft: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Rendite für zehnjährige Bundesanleihen in den negativen Bereich gerutscht. Am Morgen waren die Papiere bei Anlegern stark gefragt und der Zinssatz fiel auf minus 0,03 Prozent. Damit werden mittlerweile alle Bundesanleihen bis zu einer Laufzeit von zehn Jahren am Markt mit einer negativen Rendite gehandelt.

„Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands“

Erste Marktreaktionen fallen eindeutig aus. Der Chefvolkswirt des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Klaus Wiener, sagt: „Der Rückgang der Rendite zehnjähriger Bundesanleihen unter die Nulllinie markiert ein neues trauriges Kapitel in einem von der Geldpolitik verzerrten europäischen Anleihemarkt. Nach der Ankündigung der Europäischen Zentralbank im März, ihren ohnehin bereits extrem expansiven Kurs noch einmal zu lockern, ist das allgemeine Zinsniveau im Euro-Raum weiter gefallen. Im Zusammenspiel mit den wachsenden Sorgen über einen Austritt Großbritanniens aus der EU wurden die richtungsweisenden Kapitalmarktzinsen in Deutschland zum ersten Mal in ihrer Geschichte negativ. Mittlerweile sind die stark gefallenen Renditen eines der größten Stabilitätsrisiken, denn mit der früher oder später zu erwartenden Normalisierung des Zinsniveaus drohen massive Belastungen für die Konjunktur und die Finanzmärkte.“

„EU-Referendum auf Anklagebank“

Luke Hickmore, Senior Investment Manager bei Aberdeen Asset Management, sieht insbesondere das bevorstehende EU-Referendum in Großbritannien als Hauptursache: „Wenn man einen Schuldigen für die negativen Zinsen bei Bundesanleihen sucht, dann landet wahrscheinlich das EU-Referendum auf der Anklagebank. Die Leute werden ziemlich nervös, da der Ausgang doch enger werden dürfte als viele gedacht haben und die Unsicherheit in den Umfragen aggressiv in die Anleihezinsen eingepreist wird. Dass es beim Referendum so knapp wird, weckt einige altbekannte Ängste, die schon eine Weile vergessen schienen. Die Investoren sind wegen der chinesischen Schulden erneut besorgt – denn wenn man die privaten und gewerblichen Schulden zusammen nimmt, belaufen sich diese auf 200 Prozent des BIP. Das ist nicht gut. Über die Rohstoffpreise kann man nur staunen: Kupfer ist dieses Jahr um 4,5 Prozent gefallen, während der Ölpreis um 30 Prozent gestiegen ist. Eine sinkende Nachfrage für Kupfer ist eine schlechte Nachricht für das globale Wachstum während der gestiegene Preis für Öl realitätsgerecht ist, da sich das Angebot verringert hat. Und dann steht da noch ein großes Fragezeichen im Raum: Was können die Zentralbanken derzeit noch tun, wenn die momentan gut laufende globale Wirtschaft wieder ins Trudeln gerät? Nicht viel – und jeder weiß das.“

Brexit-Sorgen und Geldpolitik als Ursache

In das gleiche Horn stößt auch Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank: „Zur jetzigen Bewegung massiv beigetragen haben die sich verstärkten Unsicherheiten um einen möglichen Brexit, die die Investoren in den sicheren Hafen der Bundesanleihen treibt.“ Darüber hinaus sieht er aber auch die ultralockere Geldpolitik führender Notenbanken als Ursache für die große Nachfrage nach den Staatsanleihen. Im Kampf gegen die ungewöhnlich niedrige Inflation versucht die Europäische Zentralbank (EZB) mit einer immer aggressiveren Geldpolitik entgegenzuwirken.

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Die EZB pumpt Monat für Monat Milliarden in den Finanzmarkt, unter anderem über den Kauf von Staatsanleihen. Diese Nachfrage wirkt ebenfalls als Kurstreiber und drückt entsprechend auf die Renditen. „Mit der EZB ist aktuell ein sehr großer Investor mit stetiger Nachfrage im Markt tätig“, kommentierte die Deutsche Finanzagentur, die für die Ausgabe von Bundesanleihen zuständig ist. (dpa-AFX/fm)

Foto: Shutterstock

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