Bis später, EU, im Un-Vereinigten Königreich

„See EU later” („Bis später, EU“) titelte die Tageszeitung „The Sun“ am Freitagmorgen. Die britischen Wähler hatten sich für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden und die zuletzt optimistischen Anleger auf dem falschen Fuß erwischt. Gastkommentar von Igor de Maack, DNCA Investments

Igor de Maack von DNCA Investments analyisiert die finanziellen Folgen des Brexits.
Igor de Maack von DNCA Investments analyisiert die finanziellen Folgen des Brexits.

Das GBP und der FTSE-Index reagierten mit umgehenden Kursverlusten. Die Verkaufswelle an den europäischen Märkten machte die Kursgewinne der jüngsten Zeit wieder zunichte, denn Risikoinvestments (Aktien, Südeuropa, Banken etc.) litten durchweg. „Sichere Häfen“ (Gold und der USD) profitierten von der einsetzenden Risikoscheu. Das sehr knappe und beinahe unentschiedene Ergebnis ist Ausdruck des paradoxen Verhältnisses zwischen Großbritannien und der Europäischen Union, das zwischen dem Wunsch nach Abschottung, Pragmatismus sowie der Unterwanderung der technokratischen europäischen Institutionen schwankt.

Unsicherheit ist aktuell sehr groß

Das Referendum hat politische, wirtschaftliche und finanzielle Auswirkungen. Auf der politischen Seite werden sich populistische Parteien nunmehr für eine Nachahmung der Großbritannien-Entscheidung stark machen, während andere Länder im Vereinigten Königreich (Schottland und Nordirland) möglicherweise der Europäischen Union beitreten möchten. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der nun einkehrenden Phase einer hohen Ungewissheit liegen auf der Hand: und zwar in Großbritannien selbst, aber trotz der anhaltenden Konjunkturerholung im Euroraum auch im übrigen Europa. Zu den finanziellen Auswirkungen zählen schwierigere Finanzierungsbedingungen für die am wenigsten kreditwürdigen europäischen öffentlichen und privaten Schuldner.

In den USA hält nun selbst die Zentralbank die Aktienmärkte für teuer. Die nächste Zinserhöhung wird deshalb das Signal für positivere Trends in der US-Wirtschaft sein. Bislang aber zögert die Fed noch, und die US-Unternehmen setzen anstatt auf Direktinvestitionen lieber auf Aktienrückkäufe. Die S&P 500-Unternehmen haben zwischen März 2015 und März 2016 mehr eigene Aktien zurückgekauft als im Jahr 2007, insgesamt waren es Papiere für 589 Milliarden Dollar. Der demokratische Kapitalismus und seine Handelskanäle (das heißt die Finanzmärkte) benötigen Zuversicht, wie der Nobelpreisträger für Volkswirtschaft Jean Tirole in seiner Arbeit „Wirtschaft für das Allgemeinwohl“ („Economie du Bien Commun“) betont. Solange die Anleger an ein stabiles Umfeld glauben, sind sie auch bereit, in der Hoffnung auf akzeptable Kapitalerträge ihr Vermögen zu riskieren. Europa – und besonders die Eurozone – aber haben in den letzten Jahren trotz der klaren Vorteile des gemeinsamen Marktes und der Liberalisierung von Dienstleistungen einen Großteil ihrer politischen Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Ansteckungspotenzial für andere EU-Länder gegeben

Der Brexit gibt diesem verbreiteten Misstrauen nur noch weitere Nahrung und könnte Ansteckungseffekte auf andere Länder ausüben, wenn die politischen Führer in Europa nicht entschieden handeln. Obwohl noch weitere Wahlentscheidungen anstehen (Parlamentswahlen in Spanien, das Referendum in Italien, Präsidentenwahlen in den USA und Parlamentswahlen in Deutschland und Frankreich), ist der Brexit für die Anlegergemeinde aber vielleicht am entscheidendsten. Der Risikoaufschlag in den europäischen Märkten war bereits relativ hoch und könnte künftige Verluste zumindest teilweise begrenzen, während die aktuelle Zentralbankpolitik das systemische Risiko in Schach halten dürfte. Dennoch bleiben die Märkte volatil, und eine erneute Hausse – oder zumindest eine Stabilisierung – der Lage ist nur dann zu erwarten, wenn die Berichtssaison gut verläuft und/oder die Zentralbanken und die politischen Institutionen Europas entschlossen und koordiniert handeln.

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Großbritannien hingegen befindet sich bereits mitten in einer politischen Krise. David Cameron ist zurückgetreten und wird in drei Monaten sein Amt niederlegen. Eine wirtschaftliche Krise ist angesichts der Problemfaktoren (Leistungsbilanzdefizit, Immobilienblase und überproportional starker Finanzsektor) ebenfalls nicht weit entfernt. Nach einer Zeit bemerkenswerter Stabilität durch seine tausendjährige Monarchie könnte das Land der Angelsachsen jetzt zum Un-Vereinigten Königreich werden. Igor de Maack ist Fondsmanager und Sprecher des Fondsmanagementteams von DNCA Investments, Paris

Foto: DNCA Investments

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