Digitalisierung in der Assekuranz: Langstreckenlauf mit Hindernissen

Daphne Boecker
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Daphne Boecker, Allianz

Der Digitalisierungsgrad in der Assekuranz ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Doch Datenschutzbestimmungen und strukturelle Herausforderungen bremsen die Entwicklung.

Die Haftpflichtversicherung für die Familie, eine Auslandskrankenversicherung kurz vor der Reise oder auch die Teilkasko fürs Auto – die überwiegende Mehrheit der Deutschen nutzt dafür das Internet. Laut einer Erhebung von Bitkom haben acht von zehn Deutschen schon Versicherungen online abgeschlossen. Auch die Regulierung von Schäden, von der Meldung bis hin zur Auszahlung, erfolgt mittlerweile immer öfter digital.

Das Urteil der Versicherungskunden fällt in der Bitkom-Studie jedoch geteilt aus, 43 Prozent haben komplizierte Erfahrungen gemacht. Das digitale Angebot ihrer Versicherungen bewerten die befragten Online-Kunden mit der mäßigen Schulnote 3,5. Nicht alle Versicherungsprodukte halten die Kunden auch für digitale Abschlüsse geeignet. So glauben 61 Prozent, dass Altersvorsorge-Produkte digital nicht ohne Hilfen abgeschlossen werden können. Andererseits wünschen sich 59 Prozent eine einfache digitale Übersicht über ihre Einkünfte im Alter und 45 Prozent würden sich sogar von einer KI auf Grundlage ihrer Lebenssituation zur Altersvorsorge beraten lassen.

Wie reagiert die Branche auf den Kundenbedarf nach digitaler Transformation? Eher konservativ, laut der aktuellen Lünendonk-Studie „Digital Outlook 2026“: Nicht immer erfahre der Einsatz digitaler Technologien die notwenige Priorisierung und Aufmerksamkeit. Als Treiber für Investitionen nennt die Studie neue Technologien für KI und Data Analytics, veränderte Kundenanforderungen und den Wettbewerbsdruck durch neue Marktakteure. Laut Studie wollen 69 Prozent der Versicherer ihr Budget für die digitale Transformation in den nächsten drei Jahren steigern, 60 Prozent jedoch nur um 5 Prozent.

Cash. befragte eine Auswahl namhafter Versicherer zu ihren aktuellen Plänen zur Digitalisierung. „Sie berührt jeden Schritt der Wertschöpfungskette. Digitalisierung darf man dabei jedoch nicht mit dem Direktgeschäft, also dem Onlineverkauf gleichsetzen“, sagt Horst Nussbaumer, COO der Zurich Group. Es komme aufgrund komplexerer Produkte weiterhin auch auf persönliche Beratung an und den „klugen ergänzenden Einsatz digitaler Services“ an. Aktuell bietet Zurich mit Dentolo bereits ein vollständig digitalisiertes Geschäftsmodell für Zahnzusatz- und Tierkrankenversicherungen an. „Wir werden in diesem Jahr einen vollständig und durchgehend digitalen Schadenbearbeitungsprozess ausrollen sowie unsere Auftragsbearbeitung vollständig automatisieren“, führt Nussbaumer weiter aus.

Die Nürnberger verfolgt in allen Sparten kontinuierlich große Digitalisierungsprojekte, viele davon legen den Fokus auf Prozessbeschleunigung und -automatisierung. „Beispielsweise haben wir das Projekt der Dunkelverarbeitung im Antragsprozess unserer Personenversicherung in 2023 abgeschlossen und im Datenmanagement ein neues Prozess-Mining-Tool implementiert“, erläutert Sarah Schroeder, Leiterin Unternehmensentwicklung und Prozess- und Datenmanagement der Nürnberger. Für die kommenden Jahre sei unter anderem das Projekt einer digitalen Rentenübersicht geplant.


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Eine zentrale Bedeutung haben zudem digitale Endkundenplattformen. So verweist Branchenführer Allianz auf das von drei Millionen Versicherten frequentierte Portal „Meine Allianz“, das kontinuierlich ausgebaut und optimiert wird. „Kundinnen und Kunden können ganz bequem die Details ihrer Verträge nachlesen, den Schriftwechsel mit der Allianz digital einsehen und alle Services, von Vertragsänderungen bis zur Schadenmeldung, an einer Stelle übersichtlich in Anspruch nehmen“, beschreibt Daphne Boecker, Co-CEO der Allianz Kunde und Markt, die Vorteile. Der Versicherer spart dadurch zudem Kosten für Papier, Druck und Versand.

Die aktuellen Aussagen der Versicherungsmanager passen zur Lünendonk-Studie, laut der 72 Prozent der Versicherer primär auf den stärkeren Einsatz digitaler Technologien ihrer bestehender Geschäftsmodelle setzt, und diese ausbauen und optimieren will. 65 Prozent möchten zudem in den nächsten Jahren komplett neue Geschäftsmodelle entwickeln, die vom Kerngeschäft losgelöst sind. Die Studie erkennt positive Entwicklungen: „Viele Versicherungshäuser arbeiten daran, ihr Geschäft im Zuge der Digitalisierung und der damit einhergehenden Öffnung ihrer IT-Landschaft und Prozessketten neu auszurichten. Auch in Kundenschnittstellen und Data Analytics für ein höheres Kundenverständnis investieren die Versicherungen“, heißt es im Fazit der Studie. Digitale Kanäle würden dabei als Ergänzung und nicht als Ersatz für den bestehenden Agentur-Vertrieb genutzt.

Eine wesentliche Zukunftsfrage ist, wie KI die Branche – etwa im Marketing, Vertrieb und in der Kundeninteraktion – weiter verändern wird. „Künstliche Intelligenz hilft uns Risiken besser zu verstehen, und sie ist in der Lage, Mitarbeitende in der täglichen Arbeit zu unterstützen. Eine der zentralen strategischen Prioritäten liegt daher beispielsweise in der Ende-zu-Ende-Digitalisierung und Automatisierung der Prozesse, insbesondere in der Schadenbearbeitung und im Kundenservice“, betont Zurich-COO Nussbaumer. In seinem Haus sind KI-Lösungen etwa bereits im Bereich Claims (zur Betrugserkennung und im Regress) sowie im Inputmanagement (Klassifikation von E-Mails) im Einsatz. „Im Kundenservice hebt ein neu entwickelter Voicebot das Erlebnis für Kunden auf eine neue Stufe – auch hier unterstützt die KI den persönlichen Kontakt“, so Nussbaumer.

Auch die ALH-Gruppe wendet KI bereits im Inputmanagement an: „Eingehende E-Mails werden erkannt, klassifiziert und in die passenden elektronischen Postkörbe der Mitarbeiter verteilt. Das entlastet unsere Mitarbeiter in der Poststelle enorm, und dadurch sind wir auch schneller geworden“, so Vertriebsvorstand Frank Kettnaker. Die ALH will zudem durch den Einsatz von Voice Assistants und Chatbots eine größere Unterstützung im Telefoniebereich erreichen. „Parallel dazu arbeiten wir gemeinsam mit sieben anderen Versicherern in einem gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsprojekt, um Auswirkungen von generativer KI auf die einzelnen Wertschöpfungsstufen der Versicherungswirtschaft zu untersuchen und praxisrelevante Anwendungsfälle zu entwickeln“, so Kettnaker.

„Eine selbst entwickelte KI kann in fünf Minuten 500.000 Schadenakten überprüfen. Dieses System unterstützt unsere Mitarbeitenden erfolgreich dabei, mögliche Regresse in der Sachversicherung effizienter zu erkennen, um unnötige Kosten für unsere Versicherten zu vermeiden“, spezifiziert Achim Dahlbokum, Axa Vorstand Informationstechnologie/Digitalisierung, die praktische Anwendung im Schadenmanagement. Axa arbeitet zudem mit Microsoft an der Einführung von Axa Secure GPT. „Mitarbeitende werden hier in einer sicheren und datenschutzkonformen Cloud-Umgebung unterstützt durch künstliche Intelligenz Texte und Codes generieren, zusammenfassen, übersetzen lassen und korrigieren können“, erläutert der Axa-Vorstand.

Milliardenchance für die gesamte Branche

Alle von Cash. befragten Versicherer unterstreichen die Relevanz des Datenschutzes, differenzieren jedoch mitunter deutlich. „Der Datenschutz steht einer Digitalisierung in der Versicherungswirtschaft nicht entgegen, erhöht jedoch natürlich die Aufwände und Kosten“, so Nürnberger-Expertin Schroeder. Kunden seien heute aus anderen Lebensbereichen bereits eine deutlich aktivere Nutzung ihrer Daten gewohnt, natürlich mit dem jeweiligen Einverständnis. „Die Herausforderung ist eher, den Kunden hierfür einen entsprechenden Mehrwert konkretisieren zu können, zum Beispiel deutlich individualisierte Beratung und Kontaktaufnahme. Das gelingt noch nicht an jeder Stelle“, konstatiert die Leiterin Unternehmensentwicklung der Nürnberger.

Die gewissenhafte Befolgung der Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung (DSVGO) und des Bestandsdatenschutzgesetztes (BDSG) ist für die Allianz Standard. „Jedoch kommt es immer wieder vor, dass unklare Formulierungen zu Rechtsunsicherheit führen, zum Beispiel bei Fragen der Anonymisierung und Pseudonymisierung, und das kann Innovationen im Bereich der Digitalisierung für unsere Kundinnen und Kunden erschweren“, betont Allianz- Kunde-und-Markt-Co-CEO Boecker.

Die ALH wiederum stellt fest, dass der europäische und insbesondere der deutsche Gesetzgeber bei Digitalisierung oft zu Überregulierung neigt. „Das führt dann im Ergebnis dazu, dass es bei eingeübten, händischen Abläufen bleibt, bevor komplizierte, überregulierte Prozesse eingeführt werden. Für die Versicherungswirtschaft wird es von zentraler Bedeutung sein, die passende Balance zwischen Regulatorik und dem Streben nach Digitalisierung, Effizienz und Fortschritt zu finden“, mahnt ALH-Vertriebsvorstand Kettnaker.

Was konkret bringt die Digitalisierung den Versicherern an Mehreinahmen und Einsparungen? Hier halten sich die befragten Versicherer eher bedeckt. Eine aktuelle Studie von Bain & Company hat eine Steigerung von 25 Prozent an Beitragseinahmen für einen Sachversicherer berechnet, der die Digitalisierung konsequent verfolgt. Der Löwenanteil der Zuwächse entfällt auf Marktanteilsgewinne, aber 5 bis 7 Prozent resultieren aus neuen versicherbaren Risiken, einem besseren Pricing und Kooperationen.

Laut Studie sind die Effekte auf der Kostenseite noch größer, hier lassen sich rund 30 Prozent der bestehenden Kosten einsparen. Der Löwenanteil kommt aus dem Schadenmanagement und hier hauptsächlich aus einer verstärkten Prävention, einer besseren Risikoauswahl und einer Reduzierung der Betrugsfälle. Im Underwriting können sogar bis zu 50 Prozent eingespart werden. Auch in Verwaltung und Vertrieb kann bei konsequenter Digitalisierung mit 35 bis 43 Prozent weniger Kostenaufwand gerechnet werden. Das ist letztlich eine Milliardenchance für die gesamte Versicherungsbranche.

Autor Oliver Lepold ist freier Journalist.

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