Griechenland-Krise: Kolossales Dilemma für Europa

Auch wenn man Griechenland in dieser Sekunde alle Schulden streichen könnte, würde es ab der nächsten Sekunde wieder anfangen, kräftig neue Schulden anzuhäufen. Das liegt nicht an den Griechen. Die eigentliche Ursache für die Malaise ist die griechische Wettbewerbsunfähigkeit in der Eurozone. Es fehlen konkurrenzfähige Standortqualitäten. Das Land liegt weit ab vom Schuss, von den Industriezentren Mitteleuropas. Damit hat man bereits ein großes Transportkostenproblem. Daneben ist es in Griechenland im Sommer zu heiß, um – wie in Mitteleuropa üblich – durchzuarbeiten. Und der Einbau von Klimaanlagen machte die Produktion noch unwirtschaftlicher. Diesem volkswirtschaftlichen Anpassungsdruck konnte man damals noch mit Abwertungen der Drachme begegnen. Heute aber sitzt Griechenland ähnlich wie eine Maus in der Falle, in der Euro-Falle.

Diese Vorteile kommen zum Beispiel Polen oder Tschechien dagegen zugute, die auch noch nahe am Industriekernland Deutschland liegen. Es ist eine unglaubliche Realitätsverweigerung, eine Lebenslüge von Euro-Politikern, dass Hellas im Korsett der Eurozone konkurrenz- und überlebensfähig sein könnte. Eher fahren Frau Merkel und Herr Trump gemeinsam in Urlaub.

Bei der Griechenland-Frage geht es am allerwenigsten um Griechenland

Und da hilft auch keine wirtschaftsfreundlichere Regierung in Athen. Man hat zu lange nur gekleckert und nicht richtig geklotzt. Jetzt ist die Geduld der griechischen Bevölkerung für Reformen aufgebraucht. Und Privatisierungen zu aktuellen Schnäppchenpreisen, um dem Staat einmalig Geld einzubringen, würden der Regierung den Vorwurf einbringen, Staatsvermögen zu verschleudern. Und ebenso sollten die aktuell hochgelobten Wirtschaftswachstumsraten nicht überschätzt werden. Es geht nicht darum, einen kurzen Sprint, sondern einen Marathonlauf erfolgreich zu bestehen.

Kolossales Dilemma für Europa

In der Griechenland-Frage befindet sich Europa in einem kolossalen Dilemma: Einerseits setzte ein ökonomisch durchaus überlegenswerter Grexit mittlerweile die gesamte Eurozone politisch aufs Spiel. Andererseits muss die weitere griechische Mitgliedschaft im Euro-Club mit neuen Krediten finanziert werden, deren Rückzahlung eine finanzpolitische Illusion ist. Europa will den griechischen Euro-Verbleib. Das hat absolute Priorität. Damit schwebt das (sozial-) politische Damoklesschwert weiter über Griechenland. Man denkt nicht an die Griechen, sondern in Wahrheit nur an sich. Mit diesen (Stabilitäts-)Lügen müssen Eurozone und EU leben.

Das schaffen sie prima, denn ihr Lebensmotto ist: Für jeden kommt einmal die Stunde der Wahrheit und dann heißt es lügen, lügen, lügen.

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. Mit Wertpapieranalyse und Anlagestrategien beschäftigt er sich seit Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums 1990. Halver verfügt über langjährige Erfahrung als Kapitalmarkt- und Börsenkommentator. Er ist aus Funk und Fernsehen bekannt und schreibt regelmäßig für Cash.

Foto: Baader Bank

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