Die Versicherungsbranche steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Getrieben von veränderten Kundenerwartungen, regulatorischen Anforderungen und technologischem Fortschritt steigt der Druck, digitale Vertriebsprozesse weiterzuentwickeln. Eine aktuelle Studie der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte aus dem April 2025 zeigt, dass digitale Abschlussstrecken inzwischen als entscheidender Erfolgsfaktor gelten, um Marktanteile zu sichern und neue Umsatzpotenziale zu erschließen.
Allerdings bleibt die tatsächliche Nutzung hinter dem Vertrauen in digitale Angebote zurück. Zwar halten 65 Prozent der Verbraucher Online-Abschlüsse grundsätzlich für vertrauenswürdig, tatsächlich schließen jedoch nur 48 Prozent eine Kfz-Versicherung digital ab. Bei Lebensversicherungen sind es lediglich 39 Prozent. Gründe dafür sind laut Deloitte unter anderem mangelnde Benutzerfreundlichkeit, fehlendes Vertrauen oder das Bedürfnis nach persönlicher Beratung. Für Versicherer ergibt sich daraus die Aufgabe, digitale Abschlussprozesse nicht nur technisch zu ermöglichen, sondern strategisch neu zu denken.
Fünf Hebel
Das IT- und Beratungshaus Adesso verweist dabei auf mehrere zentrale Hebel für eine zukunftsfähige Umsetzung. Der erste Schritt liegt im Nutzererlebnis: Eine digitale Abschlussstrecke ist heute weit mehr als ein digitalisierter Antrag. Sie prägt den ersten Eindruck und beeinflusst maßgeblich die Konversionsrate. Versicherer sollten daher wegkommen von starren digitalen Kopien analoger Prozesse hin zu modularen, kontextsensitiven Benutzeroberflächen, die auf intelligenter Personalisierung und Nutzerführung basieren. Wer das Frontend als strategische Erlebnisebene versteht, kann sich sowohl funktional als auch optisch vom Wettbewerb abheben.
Doch auch im Hintergrund muss die Systemlandschaft stimmen. Eine durchgängig integrierte IT-Architektur ist notwendig, um Produktlogik, Bestandsführung, Preismodelle und externe Systeme wie Identitätsprüfung oder Zahlungsdienste reibungslos zu verbinden. API-basierte Integrationen und Low-Code-Lösungen bieten hier Flexibilität, auch für moderne Ansätze wie Embedded Insurance. Voraussetzung sind eine konsistente Datenhaltung und die Entkopplung von veralteten Systemen.
Einen weiteren Flaschenhals stellt häufig das Underwriting dar. Auch nach dem digitalen Antrag folgen Medienbrüche, manuelle Bearbeitung und Zeitverluste. Durch den Einsatz regelbasierter Entscheidungssysteme, maschinellen Lernens sowie Texterkennung und Sprachverarbeitung lassen sich viele Schritte inzwischen vollständig automatisieren – von der Risikoprüfung über die Angebotserstellung bis hin zur Vertragspolice. Ziel ist eine möglichst hohe Dunkelverarbeitungsquote, um Produktivität und Geschwindigkeit zu steigern.
Regulatorik wird unterschätzt
Ein oft unterschätzter Aspekt sind regulatorische Anforderungen. Was zunächst als Belastung erscheint, kann bei digitaler Umsetzung zum Vorteil werden. Wer etwa Barrierefreiheit, Datenschutz oder neue gesetzliche Berichtspflichten digital integriert, schafft Vertrauen und Skalierbarkeit. Notwendig sind dafür transparente KI-Modelle, automatisierte Dokumentationsprozesse und barrierefreie Gestaltung – etwa durch Screenreader-Unterstützung oder alternative Login-Verfahren.
Klassischer Vertrieb mit zentraler Rolle
Nicht zuletzt spielt der klassische Vertrieb eine zentrale Rolle. Digitale Abschlussstrecken ersetzen Makler oder Vermittler nicht – sie unterstützen sie. Deshalb ist es entscheidend, den Vertrieb frühzeitig einzubinden, etwa durch Co-Creation, Schulungen und Feedbackschleifen. Vertriebsportale, Self-Service-Angebote und Analyse-Tools stärken die Position der Vertriebspartner und fördern ein hybrides Modell, das digitale und persönliche Stärken kombiniert.
„Digitale Abschlussstrecken sind nicht einfach nur ein IT-Projekt. Für Versicherer sind sie der strategische Schlüssel zur Neupositionierung im Markt“, sagt Michael Gutbier, Leiter der Geschäftseinheit Insurance bei Adesso. „Wer jetzt in modulare Architekturen, regulatorisch sichere Prozesse und eine exzellente User Experience investiert, setzt nicht nur technologisch Maßstäbe – er definiert Kundenzentrierung und Vertriebserfolg neu.“