„Wir brauchen andere Zukunftsmodelle“

Wie gut sind inzwischen Vermittlerinnen und Vermittler auf die Beratung von nachhaltigen Fondspolicen vorbereitet? Denn eine Studie von EY aus dem Herbst 2022 zeigt, dass der Vertrieb scheinbar hier immer noch einen Bogen um das Thema macht.

Beitz: Ich kann das unterstreichen. Das Problem liegt darin, dass viele Furcht haben, in Haftungsfallen zu laufen. Vermittler und Kunde tun sich beide sehr schwer, den Auswahlprozess so zu gestalten, dass schlussendlich etwas herauskommt, was einer späteren detaillierten Überprüfung standhält. Im Rahmen der Angemessenheits- und Geeignetheitsprüfung gibt es immer mehr Möglichkeiten, den Vermittler auch technisch zu unterstützen und Standards einzuführen, die als Gesprächsleitfaden dienen. Ein Problem bleibt aber bestehen: Viele Vermittler sind unsicher, ob jetzt nachhaltig deklarierte Fonds sich am Ende als nicht nachhaltig herausstellen

Sie schulen zu dem Thema ESG. Wie ist der Zugriff der Vermittlerinnen und Vermittler auf die Angebote und Materialien?

Beitz: Die Nachfrage ist da. Aber zu behaupten, dass bei den Vermittlern eine Begeisterung bei dem Thema zu verspüren ist, wäre nicht richtig. Ich würde mir mehr Nachfrage wünschen, aber die Realität spricht da leider eine andere Sprache.

Wie hoch ist denn der Mehraufwand für den Vertrieb, wenn er en Detail die Präferenzen abfragen muss?

Beitz: Ich glaube, es ist erst einmal ein Mehraufwand in der Qualifikation. Der Vermittler muss sich firm in der Materie machen. Ein Makler, der ja für mehrere Unternehmen arbeitet, muss also erst einmal den Markt kennen und wissen, wie die einzelnen Unternehmen dort aufgestellt sind. Da habe ich also deutlich mehr Aufwand und eine Unsicherheit in der Beurteilung. Beispielsweise wenn ich in der Beratungssituation im Rahmen der Angemessenheits- und Geeignetheitsprüfung den Kundenabfrage, was er möchte und er sich hier nicht genau festlegen kann. Dann wird es für den Berater definitiv schwierig und der Zeitaufwand wird größer, wenn es hierfür keine zuverlässige technische Unterstützung gibt.

Ruß: Der Vermittler muss den Kunden erstmal fragen, ob ihm Nachhaltigkeit wichtig ist und welcher Mindestanteil seiner Gelder in Assets gehen soll, die nach der Taxonomieverordnung der EU grün sind. Dann muss man nach dem Mindestanteil fragen, der nach 4a, 4b, 4c (wie oben erläutert) nachhaltig sein soll, und dann gilt es noch abzuklären, welche prinzipiell negativen Auswirkungen (principal advers impacts) der Kunde komplett ausschließen möchte, also etwa Waffen oder Kinderarbeit. So wie es im Moment vorgesehen ist, ist es in der Praxis vermutlich noch nicht angekommen. Natürlich kann das irgendwann softwareunterstützt funktionieren.

Zum Teil ist es aber heute so, dass die Fonds ihre Anlagen nach bestem Wissen und Gewissen grün ausrichten. Aber aufgrund der derzeitigen Rechtslage trauen sich die Fondsmanager nur hinzuschreiben, dass ein kleiner Anteil der Anlagen nachhaltig sind. Und der Berater muss dem Kunden dann erklären, dass das trotzdem schon „echt ziemlich grün“ ist. All diese Gespräche scheuen die Vermittler aus nachvollziehbaren Gründen und sind deswegen vielleicht froh um jeden Kunden, der gleich zu Beginn des Gesprächs sagt, dass Nachhaltigkeit nicht wichtig ist – das war vermutlich nicht im Sinne des Erfinders und wird sich hoffentlich irgendwann ändern.

Ich würde gerne noch einmal auf die Zeitwende zurückkommen. Glauben Sie, dass im Zuge der hohen Energiepreise und Inflation das Sparverhalten auch auf die Altersvorsorge durchschlagen wird?

Beitz: Wir spüren es derzeit noch nicht im Neugeschäft. Natürlich beschäftigen wir uns auch mit der Energiemangellage, und wie wir die Unternehmen vor den Auswirkungen schützen können – auch im kleinen Liechtenstein. Ich bin mir in der Prognose aber nicht sicher. Wir wissen nicht, wie stark oder schwach die Rezession ausfallen wird. Oder ob es überhaupt zu einer Rezession kommt. Zumindest Deutschland scheint ja mit einem blauen Auge davonzukommen. Und die mittelfristige Inflation könnte laut einiger Prognosen auch bei zweieinhalb bis drei Prozent liegen. Positiv ist: Momentan haben wir eine unglaublich hohe Nachfrage nach Arbeitskräften. Und: Je mehr Menschen arbeiten, desto größer ist auch das zur Verfügung stehende Vermögen für Altersvorsorge.

Welche Entwicklungen erwarten Sie für die Kapitalmärkte, Prof. Ruß?

Ruß: Wir haben dreimal hintereinander geldpolitische Maßnahmen in unbekannter Größe gesehen: erst nach der Finanzmarktkrise, dann in der Coronakrise und nun in Folge des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die immensen geldpolitischen Maßnahmen werden die Unsicherheit sowohl in Bezug auf Zinsentwicklungen als auch in Bezug auf die Inflation erhöht haben. Die Prognostizierbarkeit ist daher extrem gering. Ich traue mir daher keine seriöse Prognose zu.

Ich bin nur davon überzeugt, dass wir mit sehr starken Fluktuationen rechnen müssen. Eine kleine Mini-Prognose habe ich aber doch. Wir setzen weltweit auf den altbewährten Leitsatz: Willst du Inflation in den Griff bekommen, musst du Zinsen erhöhen. Das funktioniert perfekt, wenn die Inflation dadurch ausgelöst wird, dass die Menschen zu viel Geld haben und dieses auch ausgeben. Wenn ich dann die Zinsen erhöhe, kommt der eine oder andere vielleicht doch auf die Idee, Geld zurückzulegen.

Wir haben jetzt aber eine Inflation, die durch Angebotsknappheit ausgelöst ist. Und dann auch noch bei Produkten, die zu den Grundbedürfnissen gehören wie Lebensmittel und Energie. Da funktioniert dieser Ansatz nicht. Deswegen wird die Zinserhöhung eventuell weniger zur Senkung der Inflation beitragen, als man es vielleicht erhofft. Und das kann dazu führen, dass die EZB stärker erhöhen muss, als sie sich das vorgenommen hat. Kurzfristig sehe ich also mehr Zinsschritte, als wir vielleicht gerne hätten. Mittelfristig ist die Unsicherheit so hoch, dass seriöse Prognosen nicht möglich sind.

Haben sie eine derartige Entwicklung je gesehen?

Ruß: Zumindest habe ich es nicht erlebt, seit ich aktiv in der Branche bin – und da bin ich nicht alleine: Wir haben mindestens eine Generation von Managern, ob Versicherungs-, Bank- oder Fondsmanager – die noch nie ein Umfeld steigender Zinsen erlebt haben. Die kennen das nur aus Lehrbüchern. Und mindestens zwei Generationen von Managern haben noch nie mit signifikanter Inflation zu tun gehabt. Das ist für viele spannendes Neuland.

Beitz: Wir haben sinkende Zinsen erlebt und eine Inflation auf einem Niveau, bei dem man kaum noch von Inflation sprechen kann. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Wohlstand kontinuierlich gewachsen. Was unsere Lebensparadigmen betrifft, sind wir an einer Zeitwende. Wir brauchen andere Zukunftsmodelle. Die realistisch sind und Hoffnung beinhalten. Das wird eine große Herausforderung. Für uns als Management. Aber auch für die Politik.

Wo sehen Sie die großen Herausforderungen für die Lebensversicherung im Jahr 2023?

Ruß: Ich sehe spontan drei Punkte: Das Management des klassischen Deckungsstocks, ein potenzielles Stornorisiko und der Umgang mit Inflation. Der klassische Deckungsstock ist noch immer das Herzstück vieler Versicherer. Der große Nutzen, den dieser für die Kunden generiert, liegt darin, dass die Erträge über Kalenderjahre und Kundengruppen hinweg geglättet werden. Das funktioniert aber nur dann richtig gut, wenn in jedem Marktumfeld gleich viel Geld hineinkommt. Es stellt sich die Frage, ob es die Versicherer auch nach einem eventuellen Zinsanstieg noch schaffen, entsprechende Gelder einzusammeln.

Was das Stornothema anbelangt, so besteht ein Risiko, dass bestehende Kunden stornieren, weil nach einem Zinsanstieg andere Produkte attraktiver erscheinen. Das Versicherungsvertragsgesetz schreibt nämlich garantierte Rückkaufwerte vor. Die Wertpapiere, die diese Leistungen abdecken, sinken zwischenzeitlich im Wert, wenn die Zinsen hochgehen. Aber der Rückkaufswert, den man den Kunden geben muss, sinkt nicht. Damit könnte jeder stornierende Kunde dem Versicherungsunternehmen einen Verlust zufügen.

Und das Thema Inflation betrifft in der Lebensversicherung weniger die Leistungen, die an die Kunden zu bezahlen sind, als vielmehr die Kosten, die in Versicherungsverträge eingerechnet sind. Denn diese sind in Euro festgelegt. Die Ausgaben des Versicherers für Sachbearbeiter, Mieten, Papier und Druckerpatronen steigen hingegen mit der Inflation. Bleibt die Inflation längerfristig hoch, wird der Kostendruck hierdurch (noch) weiter zunehmen.

Beitz: Ich sehe zwei zentrale Herausforderungen. Zum einen das Thema Kosten, zum anderen das Thema Langfristigkeit. Die Themen Kosten und Kostenmanagement spielen eine immer größere Rolle – auch vor dem Hintergrund der von der Eiopa angestoßenen Diskussion zum Thema Value of money. Die Kunden erwarten – auch kurzfristig, einen realen Gegenwert für ihre Versicherungsbeiträge – wir müssen also den Nutzen einer Lebensversicherung für die Altersvorsorge klarer kommunizieren.

Ebenso wichtig ist es, deutlich zu machen, dass unsere Produkte auf längere Laufzeiten ausgerichtet sind. Es geht um langfristige Sparprozesse. Es geht um Garantie und Sicherheit. Versicherer managen Unsicherheit über Laufzeiten von 30 bis 40 Jahren und mehr. Da darf man sich durch die verschiedenen Risiken aufgrund aktueller Entwicklungen nicht treiben lassen. Hier die Ruhe zu bewahren und einen klaren Kopf, ist die Herausforderung.

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